Ein inklusiver Biomarkt
Geschickt bewegt sich Katja Geist mit dem Rollstuhl hinter der Brottheke hin und her, packt Dinkelweckle und schwäbische Knauzenwecken in eine Papiertüte und reicht sie der Kundin. Die 25-Jährige arbeitet im Biomarkt ihrer Eltern in Öhringen, gemeinsam mit zwei weiteren Rollstuhlfahrerinnen. Was für die Kunden des Marktes in der 23000-Einwohner-Stadt Normalität ist, ist bundesweit noch immer so ungewöhnlich, dass die Inhaber Roland und Brigitte Geist für ihr Engagement ausgezeichnet wurden. Im vergangenen Sommer erhielten sie den Mittelstandspreis für soziale Verantwortung in Baden-Württemberg in der Kategorie bis 20 Mitarbeiter. Der Preis von Caritas und Wirtschaftsministerium in Baden-Württemberg würdigt das freiwillige soziale und gesellschaftliche Engagement von Unternehmen.
"Das war ein schöner Moment des Erfolges und der Bestätigung", sagt Roland Geist im Rückblick auf die Preisverleihung im Neuen Schloss in Stuttgart. "Gerade, wenn man sich schon so lange mit diesem Thema beschäftigt hat." Mit "diesem Thema" meint er nichts anderes als die vieldiskutierte Inklusion, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gesellschaft. Doch als seine Tochter 1987 geboren wurde, war Inklusion noch kein Thema. "Das war sehr, sehr schwer", sagt Roland Geist. Weil seine mehrfachbehinderte Tochter im Ort schnell verwurzelt und mit den Nachbarkindern vertraut war, setzte er sich dafür ein, dass sie Kindergarten und Schule im Ort besuchen konnte. Ein begleitender Zivildienstleistender oder ein Freiwilliger im sozialen Jahr konnte die Behinderung ausgleichen. Doch die Finanzierung wurde abgelehnt. "Der viel teurere Besuch einer Sondereinrichtung wäre dagegen problemlos möglich gewesen", ärgert sich Roland Geist. Erst nach jahrelangem Streit setzte er sich in zwei Gerichtsinstanzen durch. "Heute gibt es da deutlich weniger Probleme", sagt er. "Auch wenn noch einiges zu tun ist." Durch die aktuelle Diskussion über Inklusion fühlt er sich denn auch bestätigt.
Als Katja Geist ihre Schulzeit beendet hatte, wollten ihre Eltern, dass sie auch ihr berufliches Leben im vertrauten Umfeld verbringen kann. Als ihr kleiner Hofladen aus allen Nähten platzte, eröffneten sie im nahen Öhringen einen 500 Quadratmeter großen Biomarkt und planten die Beschäftigung dreier mehrfachbehinderter Rollstuhlfahrerinnen mit ein.
Brottheke nach Rollstuhlmass
"Die Brottheke haben wir niedriger ausgelegt und zentimetergenau nach den Maßen der Rollstühle gebaut", berichtet Roland Geist. Bei den Sozialämtern und der Agentur für Arbeit setzten sich die Geists für Fördermöglichkeiten ein, so für die Umsetzung des Anfang 2008 gerade in Kraft getretenen Persönlichen Budgets, das Menschen mit Behinderung ermöglicht, Unterstützung selbst einzukaufen. "Unser Fall war bei der Agentur für Arbeit bundesweit das erste trägerübergreifende Budget", sagt Roland Geist. Die ersten drei Jahre wurde die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung der drei Mitarbeiterinnen mit Behinderung gefördert. Seit 2007 - zunächst im Praktikum - sind die drei Rollstuhlfahrerinnen nun im Biomarkt beschäftigt. Im Schichtdienst arbeiten sie 31 Stunden wöchentlich. Die drei wohnen gemeinsam in einer Wohngemeinschaft in der Öhringer Innenstadt. Von dort können sie in zehn Minuten selbstständig ihren Arbeitsort erreichen. Sie kümmern sich um die Brottheke, räumen dort Brote und Brötchen ein, bedienen die Kunden, machen belegte Brote, backen Kuchen nach Anleitung und tippen die Verkäufe in eine mit Farben übersichtlich gekennzeichnete Kasse. Falls die Frauen doch einmal Hilfe benötigen, steht an der benachbarten Käsetheke eine Mitarbeiterin bereit. "Das ist eine sehr große Leistung, die die drei da bringen", ist Roland Geist sehr zufrieden mit seinen Mitarbeiterinnen. "Ich hätte nicht gedacht, dass das einmal möglich sein würde."
Persönliches Budget: "Eine tolle Sache"
Mit Hilfe ihrer Eltern konnten die drei Rollstuhlfahrerinnen sogar ein Unternehmen gründen, eine "Gesellschaft bürgerlichen Rechts" (GbR). "Sie stellen ihre Hilfen selbst ein", erzählt Roland Geist. Eine Sozialpädagogin, drei Assistenzkräfte und zwei Aushilfskräfte assistieren ihnen da, wo es nötig ist. "Das Persönliche Budget ist eine tolle Sache, um unabhängig von Einrichtungen zu sein. Das kann ich nur empfehlen." Denn dadurch entstehe ein Gewinn für alle: "Die Kosten sind geringer und den Betroffenen kann der Wunsch nach einem Leben inmitten der Gesellschaft erfüllt werden."
Andere Unternehmen ermutigt Roland Geist, seinem Beispiel zu folgen. "Es dient der Motivation der eigenen Mitarbeiter, wenn sie sagen können: Ich schaffe in einer tollen Firma." Das sei positiv für das Gesamtbild des eigenen Unternehmens.