Lasst mich doch endlich ankommen!
Jedes Jahr kommen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) auf unterschiedlichen Fluchtwegen aus unterschiedlichen Herkunftsländern in Deutschland/in Sachsen-Anhalt an. Die Erlebnisse auf der Flucht sind den Kindern und Jugendlichen ins Gesicht geschrieben. Sie sehen erschöpft aus, haben wenig Vertrauen gegenüber Erwachsenen, sind teilweise verängstigt und wirken wesentlich älter, als sie eigentlich sind. Das Erlebte im Herkunftsland und die Flucht haben sie geprägt. Nach unserem Menschenrechtsverständnis und christlichen Ethikkodex sind es Schutzbefohlene, denen man eine umfängliche Personenfürsorge gewährleisten muss. Leider sieht die vom Bundesgesetzgeber vorgeschriebene Rechtspraxis - Ausländerrecht vor Kinder- und Jugendrecht - für diese spezielle Flüchtlingsgruppe anders aus.
Trotz der sehr zu begrüßenden Rücknahme des Vorbehalts (manifestiertes Ausländerrecht vor Kinder- und Jugendrecht) der Bundesrepublik Deutschland zum Art. 22 (Flüchtlingskinder) der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) im September 2010 befinden sich nach wie vor UMF in einem Spannungsfeld zwischen Aufenthaltsrecht und Kinder- und Jugendrecht. UMF
Durch die im Aufenthaltsrecht definierte Asylverfahrensfähigkeit ab 16 Jahren und die daraus resultierenden Altersfestsetzungsverfahren durch die Jugendämter wird diesen Kindern kein uneingeschränktes Kindeswohl gewährleistet. Oftmals werden sie bei Inaugenscheinnahmen durch das Jugendamt älter gemacht und damit ins Asylverfahren gedrängt, um keine Kinder- und Jugendhilfe gewähren zu müssen. Weitere Folgen sind Nichtanerkennung des Fluchtschicksals als asylrelevanter Grund und somit abgelehnte Asylverfahren, Minderjährige in Abschiebehaft und grundsätzlich eine Schlechterstellung vor allem in den Bereichen Schulbesuch, Berufsausbildung, Gesundheitsversorgung sowie Unterbringung gegenüber deutschen Kindern.
Unkenntnis über die tatsächliche Lebenssituation und über rechtliche Konsequenzen für die psychische und physische Entwicklung dieser Kinder bei Vertretern der Legislative, Exekutive und Zivilgesellschaft führt oft zu politischen Fehleinschätzungen und
-entscheidungen und fehlender Empathie.
Genaue Statistiken über die Anzahl von einreisenden UMF liegen nicht vor. In Sachsen-Anhalt geht man von ca. 50 bis 100 minderjährigen Flüchtlingen pro Jahr aus.
Offizielle Zahlen aus dem Ministerium unterscheiden sich von den oben genannten Schätzungen. Die Ursache für die Differenz liegt nach Einschätzung von Fachleuten aus der Sozialen Arbeit darin, dass UMF, die u. a. nicht über die Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Halberstadt (ZAST) registriert werden, von den zuständigen Behörden in den Landkreisen und kreisfreien Städten wie oben beschrieben ins Asylverfahren gedrängt und damit in Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber untergebracht werden. Diese Kinder können dann keine altersspezifischen Hilfsangebote erreichen, weil die gesellschaftlichen Akteure keine Kenntnis von ihnen bekommen. Nur durch Hinweise von Sozialarbeitern oder anderen interessierten Bürgern wurden bisher Fälle bekannt.
Sachsen-Anhalt hat sich seit 1994 der Gestaltung rechtlicher und sozialpolitischer Rahmenbedingungen für UMF gewidmet. Durch die Einrichtung einer Clearingstelle 1994 (Erstaufnahmeeinrichtung für UMF in Trägerschaft der Caritas-Trägergesellschaft St. Mauritius gGmbH) und die Gründung des Vormundschaftsvereins refugium e. V. (Korporatives Mitglied beim Caritasverband für das Bistum Magdeburg e. V.) 1997 wurden konkrete Unterstützungsangebote geschaffen.
refugium e. V. — 15 Jahre Engagement für unbegleitete Flüchtlingskinder
Der Vormundschaftsverein refugium e. V. wurde 1997 mit Bezug auf das Haager Minderjährigenabkommen und die darauf basierende Richtlinie des UNHCR gegründet, um eine unabhängige rechtliche Vertretung für die Belange von UMF zu schaffen. Ein hauptamtlicher Mitarbeiter führt die vom Familiengericht übertragenen Vormundschaften. Die Vereinsführung wird durch Ehrenamtliche geleistet. Im Mai 2012 hat Sozialminister Norbert Bischoff die Schirmherrschaft über den Verein übernommen.
Von Ende 1997 bis Ende 2012 konnten 178 UMF aus 34 Ländern betreut und unterstützt werden. Im Jahre 2011 führte der Vormundschaftsverein 44 Vormundschaften über 31 Mädchen und 13 Jungen aus 11 Ländern. Die größte Personengruppe kam aus Vietnam. Das Durchschnittsalter lag zwischen 14 und 15 Jahren.
Auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben "Zukunftsbilder"!
Neben der aufenthalts- und sozialrechtlichen Betreuung widmet sich der Verein auch der sozialpädagogischen Arbeit mit den Flüchtlingskindern. Über Kreativworkshops mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen werden Fluchtgeschichten und Zukunftsvorstellungen der Kinder und Jugendlichen bearbeitet.
Mit der Methode des großformatigen Malens wurde unter Anleitung eines Kunsttherapeuten und eines Sozialpädagogen mit einem biografischen Ansatz die Flucht- und Alltagssituation der UMF aufgearbeitet. Begleitend während des Arbeitsprozesses wurden Kurzinterviews zu Zukunftsvorstellungen geführt. Es entstanden sehr ausdrucksstarke Bilder und beeindruckende Statements. Das Interesse der Jugendlichen, mit diesen Bildern weiter zu arbeiten und über sich und ihre Bildmotive in der Öffentlichkeit zu informieren, wurde von refugium positiv aufgenommen und so entstand eine Wanderausstellung "Zukunftsbilder", die bereits an verschiedenen Orten Sachsen-Anhalts und darüber hinaus zu sehen war. Die Ausstellung wurde 2011 u. a. mit dem Integrationspreis Sachsen-Anhalts in der Kategorie "Kultur und Medien" ausgezeichnet.
Anliegen des Projekts war es, auf die Gruppe der UMF in der Öffentlichkeit aufmerksam zu machen und die Aufnahmegesellschaft für ihre schwierige Situation zu sensibilisieren.
Dabei war es besonders wichtig, dass die Kinder sich selber von der Planungsphase bis zur Durchführung der Ausstellung mit ihren Ideen einbringen konnten. Es sollten nicht wieder ausschließlich Erwachsene über die Situation der UMF berichten, sondern die betroffenen Kinder konnten authentisch ihre Erfahrens- und Erlebniswelt darstellen, beschreiben und präsentieren. Sie erlebten so Wertschätzung und aktive Mitwirkung als Möglichkeit von gesellschaftlicher Partizipation. Der Verein erachtet diesen Ansatz grundsätzlich als sehr wichtig für die Stärkung der Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen.
Rechtliche Veränderungen sind notwendig - Vorrang Kindeswohl ins Ausländerrecht!
Für refugium e. V. ist klar, dass es kaum eine politische und rechtliche und somit soziale Veränderung in diesem Arbeitsbereich geben wird, wenn nicht in den Bundesländern und auf Bundesebene konsequent die Legislative und Exekutive mit der tatsächlichen Situation und mit den rechtlichen Folgen für diese Kinder konfrontiert werden. Die Praxis der Altersfestsetzung und der aufenthaltsrechtlichen Entscheidungsmaßstäbe muss sich ändern! Die Bundesrepublik Deutschland sollte Kindeswohl nicht mit zweierlei Maß messen. Kinder sind besonders schutzbedürftig, ob sie aus Deutschland oder aus einem anderen Land stammen!
Monika Schwenke
Kontakt
refugium e. V.
Karl-Schmidt-Str. 5c, 39104 Magdeburg
Tel.: 0391 4080513, Fax: 0391 4080520
Roland Bartnig
E-Mail: bartnig-refugium@caritas-ikz-md.de
Caritasverband für das Bistum Magdeburg e. V.
Fachreferat Migrationsdienste
Langer Weg 65 - 66, 39112 Magdeburg
Tel.: 0391 6053236, Fax: 0391 6053100
Monika Schwenke - Fachreferentin Migrationsdienste
E-Mail: monika.schwenke@caritas-magdeburg.de