Überleben in Ruinen
Unterwegs ist er abseits der Hauptstraße, die früher Reichsstraße 1 hieß und heute als „A 194“ in der russischen Exklave Kaliningrad das frühere Königsberg mit dem Grenzort Mamonowo (Heiligenbeil) verbindet. Nur noch wenige Häuser sind hier auszumachen zwischen Feldern, die seit Jahren nicht mehr bestellt wurden. Vieles liegt brach, weil Spekulanten aus Moskau oder St. Petersburg das Land gekauft haben, ohne ein Interesse an einer landwirtschaftlichen Nutzung zu haben.
Nicht nur die Vegetation ist sich selbst überlassen, auch die Landarbeiterhäuschen, die oft noch aus deutscher Zeit stammen. Es sind bessere Ruinen, die man spottbillig mieten kann: umgerechnet zehn Euro im Monat für verrottete und verschimmelte Behausungen. „Nicht einmal Tiere würde man hier unterbringen“, erklärt Oksana Steshka von der Caritas Kaliningrad. Kurz darauf stoppt Wladyslaw den Bulli an einer solchen Ruine. Hier lebt Olga, alleinerziehende Mutter von acht Kindern.
Die Familie hat die Besucher schon erwartet: die Mitarbeiter der Caritas aus Paderborn, vor allem aber Schwester Alberta vom Sozialzentrum der Caritas in Mamonowo. Mit Gebrüll stürzen Maksim und Nikita, die Zwillinge, auf die Ordensfrau zu und schließen sie in die Arme. Im Handumdrehen sind die Besucher von anderen Kindern umringt. Wo sie überall herkommen, ist im Halbdunkel des stickigen Raumes nur zu erahnen. Die schwach leuchtende Glühbirne an der Decke verdeckt gnädig den Blick auf das heruntergekommene Mobiliar. Nebenan im Badezimmer erkennt man eine verrostete Badewanne.
Schwester Alberta hat Obst mitgebracht. Wie ein halbes Dutzend andere Familien könnten auch Olga und ihre Kinder ohne regelmäßige Lebensmittelspenden der Caritas nicht überleben. Gelegenheitsjobs und ein wenig Kindergeld reichen nur für das Nötigste. Zwei Euro kostet das Kilo Äpfel am Straßenstand in Kaliningrad; 200 bis 300 Euro stehen dem an monatlichem Durchschnittseinkommen gegenüber. Tränen stehen Olga in den Augen, als sie Schwester Alberta auf die Wange küsst. „Sie gibt mir Kraft, das Ganze hier zu überstehen“, sagt sie. Ohne Schwester Alberta und ihre Mitschwestern gäbe es auch Maksim und Nikita nicht. Die Mutter hatte bereits sechs Kinder, als sie mit den Zwillingen schwanger wurde. Sie wollte abtreiben lassen, als der Krankenhausarzt sie auf die Ordensfrauen in Mamonowo und die Hilfe der Caritas aufmerksam machte.
Seit fast 20 Jahren sind die Katharinenschwestern in Mamonowo präsent. Eigentlich stammt die Ordensgemeinschaft aus dem benachbarten Braunsberg (Braniewo) auf der polnischen Seite der Grenze. Nach dem Ende der Sowjetunion und der Öffnung des bis dahin militärisch genutzten Kaliningrader Gebietes zog es einige Schwestern nach Mamonowo, an den Sterbeort ihrer Ordensgründerin Regina Protmann. Das katholische Schwesternhaus wurde bald Anlaufstelle für bedürftige Kinder und Familien. Einigen wenigen Straßenkindern konnten die Schwestern Obdach bieten.
Mit Spenden aus dem Erzbistum Paderborn ist jetzt in unmittelbarer Nachbarschaft des Schwesternhauses ein Sozialzentrum entstanden, das die Schwestern im Auftrag der Caritas Kaliningrad betreuen. Hier werden vor allem Kinder gefördert, die zu arm sind, um einen Kindergarten besuchen zu können. Diese Förderung ist wichtig, weil Kinder aus sozial schwachen Familien in der Schule als „lernbehindert“ abgestempelt werden, weil die Eltern oft drogen- oder alkoholkrank sind. Per Bulli werden die Kinder aus dem Umland zum Sozialzentrum gebracht.
Das schmucke Gebäude, benannt nach der seligen Regina Protmann, bietet optimale Vorrausetzungen der Versorgung: mit Lebensmitteln und Bekleidung, aber vor allem mit pädagogischer Förderung. Manche Kinder stehen hier erstmals in ihrem Leben vor einem Waschbecken. „Sie wissen nicht, was das ist“, erklärt Oksana Steshka. Bei Bedarf ist auch psychologische Hilfe möglich. Manche Kinder sind traumatisiert. Extremes Beispiel ist der Fall von Geschwistern, die als Kleinkinder unversorgt von ihren Eltern im Stich gelassen wurden. Sie wurden durch Zufall von Nachbarn entdeckt und gerettet. Ein Baby war bereits im Schlaf von Ratten angefallen und im Gesicht verletzt worden. „Ich weiß nicht, wie man lacht“, antwortete dieses Kind auf die Frage einer Erzieherin, warum es niemals lächelt.
Neben der Hilfe für die Kinder geht es der Caritas und den Ordensfrauen darum, „Risiko-Familien“ zu stabilisieren. Hierfür setzen die Ordensschwestern auf die Mütter. „Wir zeigen den Frauen, wie man wäscht, kocht und preiswert einkauft“, weiß Schwester Alberta. Ihr Traum ist es, aus dem Sozialzentrum einen Ort der Hilfe zur Selbsthilfe zu machen. Im Dachgeschoss könnten dafür Seminarräume entstehen, im Kellergeschoss Werkräume. Das ist alles Zukunftsmusik für ein Projekt, das nur aus Spenden finanziert wird. Doch die Hoffnung lebt bei der Caritas Kaliningrad und den Ordensschwestern von Mamonowo. Auch dank der inzwischen 15-jährigen Unterstützung von Spendern aus dem Erzbistum Paderborn.