Selbstständig leben lernen (an langer Leine)
"wir sind sehr stolz auf unsere Mädchen!" Der Pädagoge Jorst Kasten ist kaum zu bremsen, wenn er von der Erfolgsgeschichte des Projekts "Trainingswohnen" in der Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung St. Josef in Gelsenkirchen erzählt.
"Unsere Mädchen", das sind Michelle und Melina. Beide leben schon seit längerem in der Einrichtung und haben sich auf Anhieb sehr gut verstanden. So stießen sie auch mit ihrem Wunsch, gemeinsam in der Trainingswohnung im Haus St. Elisabeth zu leben, bei den Mitarbeitern auf offene Ohren. Seit einem Jahr sind die beiden nun eine WG.
Trainingswohnen: Was ist das?
"Unsere Jugendlichen, die in Trainingswohnungen allein oder zu zweit leben, praktizieren das `Leben an der langen Leine´", erklärt Jorst Kasten, "Sie übernehmen Verantwortung für sich, für ihren Alltag. Dafür, dass sie pünktlich aufstehen und zur Schule gehen, die Wäsche gewaschen, die Wohnung aufgeräumt und sauber ist. Ja, und wenn der Kühlschrank leer ist, müssen sie einkaufen, selbst entscheiden, was und wie viel. Auch das Finanzielle müssen sie selbst regeln. Alles in Eigenregie erledigen, was eben den Alltag so ausmacht."
Bei Michelle und Melina klappt das ganz hervorragend. Vieles machen sie gemeinsam, aber jede hat auch ihr eigenes Reich in der kleinen Zwei-Raum-Wohnung. Und sie haben ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn, den älteren Menschen aus dem Haus St. Elisabeth. "Wir haben einen guten Draht zueinander", sagt Michelle. "Und kleine Probleme, zum Beispiel, wenn die Musik mal zu laut ist, klären wir miteinander."
Wenn es doch mal Schwierigkeiten gibt, sind die vertrauten Pädagogen immer für sie da. Und nicht nur dann. Die Jugendlichen kommen auch ohne Grund gerne in die Husemannstraße. Einfach so, um Freunde oder ihre ehemaligen Erzieher zu treffen oder sich auszutauschen. Das gibt Sicherheit, stärkt das Vertrauensverhältnis. Zweimal pro Woche sind Jorst Kasten, Melanie Werdin, Astrid Iding und Anja Witterkamp bei Jugendlichen in den Trainingswohnungen zu Besuch, unangemeldet. Vertrauen ist die Grundlage für diesen ersten Schritt in die Selbstständigkeit.
Pädagogen hatten Zweifel
Am Anfang gab es viele Zweifler. Ende der 1990er Jahre begann das Erzieherteam um Leiterin Anja Gresch, das Projekt Trainingswohnen weiter zu entwickeln. Der damals neue Mitarbeiter Detlef Krautkrämer hatte die Idee aus Berlin mitgebracht: "Unsere Jugendlichen müssen sich frühzeitig ausprobieren. Wie sollen sie später mit der gewonnenen neuen Freiheit umgehen können, wenn sie es nicht begleitet durch uns geübt haben?" Viele Pädagogen hatten Bedenken. "Einen Haustürschlüssel zur eigenen Verwendung? Das klappt nie", hieß es da. Oder auch: "Das Geld wird niemals reichen, das ist schon nach einer Woche ausgegeben."
Und es klappte doch! In vielen Gesprächen konnten auch verschiedene Jugendämter vom Konzept überzeugt werden und tragen das Projekt nun mit, auch finanziell. In regelmäßigen Gesprächen berichten die Erzieher, wie sich ihre Schützlinge entwickeln. Und bei Michelle und Melina läuft bisher alles prächtig. Und so lernt auch das Team immer noch hinzu.
Für Melina, die jetzt "mit 18" in ihre erste "echte" eigene Wohnung ziehen wird, ist eines klar: "Ich habe viel gelernt und möchte mit den Leuten hier bei St. Josef in Kontakt bleiben. Auf alle Fälle."
Ute Kwasnitza
Hintergrund
In verschiedenen Stufen werden die Kinder und Jugendlichen an das selbstständige Leben herangeführt. In der Gruppe 5 A zum Beispiel ist die Unterstützung noch sehr weitreichend. Morgens werden sie geweckt und pünktlich auf den Weg zur Schule geschickt. Und wenn die Schule aus ist, steht das Essen auf dem Tisch. Ein wenig anders ist es dann schon in Gruppe 5 B. Zwar ist ein Erzieher immer da und schläft auch nebenan. Aber die Mädchen und Jungen müssen selbst einkaufen, ihre Wäsche waschen und vieles mehr. Die Gelsenkirchener Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung St. Josef unterhält derzeit Trainingswohnungen in der Kirchstraße, in der Eberstraße und eben im Haus St. Elisabeth.