Hand in Hand – mit klaren Regeln
Foto: Silke Wernet
Simon hat heute Geburtstag. Er ist jetzt vier Jahre alt. Endlich! Er ist zwar immer noch der Jüngste in seiner Kindergartengruppe im Caritas-Kinderhaus in Krailling bei München, aber nicht mehr lange. Im Herbst kommen mehrere Kinder in die Schule und Jüngere rücken nach. Für Simon gibt es heute einen "Geburtstagsgarten", das Ritual in der Gruppe, wenn jemand Geburtstag hat. Die Erzieherinnen haben eine prächtige Krone für ihren Jüngsten gebastelt, die Simon schon den ganzen Vormittag trägt. Nach der Brotzeit setzen sich alle 15 Kinder in den Stuhlkreis und das Geburtstagskind darf zur Feier des Tages auf einem "Thron" sitzen. Zuerst wird die Wunschrakete gezündet. Dazu sagen zunächst alle Kinder einen Wunsch in eine Wundertüte. Hannes darf beginnen: "Ich wünsche ihm, dass er gute Freunde hat!", Steffi wünscht ihm, "dass er gesund bleibt", Sophia sagt: "Ich wünsche ihm ein großes Herz!" Als Anna dran ist, streicht sie sich mit den Fingern über das Gesicht. In der Zeichensprache heißt das: "Simon soll es gut gehen." Als alle Kinder ihre Wünsche gesagt haben, wird die Rakete gezündet. Ein Papiertrichter mit bunten Herzen geht in Flammen auf und entschwindet in die Höhe.
Als Nächstes steht das Geburtstagsherz auf dem Programm. In der Mitte des Kreises liegt ein großes, aus einem roten Tuch gefaltetes Herz auf dem Boden. Simon bekommt die Augen verbunden und während Musik erklingt, schmücken die anderen Kinder Simons Geburtstagsherz mit bunten Materialien wie Muscheln und Perlen. Steffi und Sophia nehmen Simons Hände und hören ganz entspannt der Musik zu. Hannes hält es nicht mehr auf dem Stuhl, er rutscht zu einer Erzieherin auf den Schoß und nach kurzer Zeit verlassen sie den Raum. Anna wird von einer Erzieherin unterstützt, damit auch sie ein paar bunte Holzstäbe auf das Herz legen kann. Schließlich ist aus dem roten Tuch ein kleines Kunstwerk geworden, das mit dem Geburtstagskind zusammen auf einem Foto festgehalten wird. Nach einem kurzen Fingerspiel ist das Geburtstagsritual beendet und die Kinder stürmen in den Garten.
Wenn Hannes nicht mehr stillsitzen kann, darf er gehen
Die Sternengruppe ist eine von zwei Integrationsgruppen in dem Caritas-Kinderhaus. In dieser Gruppe sind nur 15 statt 25 Kinder, fünf davon haben einen besonderen Förderbedarf, sind sogenannte I(ntegrations)- Kinder. Hannes hat ein ausgeprägtes ADHS-Syndrom (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung), Steffi war eine Frühgeburt und ist in ihrer Entwicklung verzögert und Sophia hat von Geburt an eine halbseitige Lähmung. "Wir versuchen so viel Integration wie möglich", sagt Evelyn Führgut, die leitende Erzieherin. "Aber wenn Hannes nicht mehr stillsitzen kann, darf er rausgehen, weil er in diesem Moment zu vielen Reizen ausgesetzt ist und für sich sein muss." Die Kinder müssten lernen, "dass jeder etwas lernen muss". Sie lernen zu akzeptieren, dass Hannes gehen darf, wenn er es nicht mehr aushält, während die anderen sitzen bleiben sollen. Im Gegensatz zu einer Gruppe, in der keine beeinträchtigten Kinder sind, gibt es in der I-Gruppe noch klarere Regeln als in den anderen Gruppen. Sie werden mit den Kindern gemeinsam erarbeitet. "Kinder mit ADHS oder einer Bindungsstörung brauchen viel mehr Verlässlichkeit und Sicherheit als andere Kinder", sagt die Erzieherin. Ausnahmen von der Regel würden sie zu sehr irritieren. Für Anna wurde eine "gebärdengestützte Kommunikation" in der Gruppe erlernt. Das jetzt fünfjährige Mädchen hat eine genetisch bedingte geistige Behinderung. Sie wird wahrscheinlich nie sprechen können. Um sie an der Kommunikation teilhaben zu lassen, haben Erzieherinnen und Kinder Elemente aus der Gebärdensprache erlernt. Auch für jedes Kind wurde ein Zeichen vereinbart, mit dem es benannt werden kann. Die Hand, die einen schwimmenden Fisch nachahmt, meint zum Beispiel Jonas, denn er heißt mit Familiennamen Fischer. Wenn sich einer mit dem Zeigefinger an die Stirn tippt, dann ist David gemeint, denn er hat immer gute Ideen. "Die Gebärden erlernen die Kinder spielerisch und haben Spaß dabei", sagt Erzieherin Führgut. "Durch Umgang mit ihren unterschiedlichen Stärken und Schwächen erwerben sich die Kinder auch ungemein viel soziale Kompetenz."
Spielerisch aus Stärken und Schwächen
soziale Fähigkeiten lernen.Foto: Silke Wernet
Auch für die Leiterin des Kinderhauses, Renate Kleinmond, ist es besonders wichtig, dass Kinder lernen, respektvoll und konstruktiv mit Stärken und Schwächen umzugehen. Anna sei mit drei Jahren in ihre Einrichtung gekommen. Sie konnte nicht laufen und fast nicht kommunizieren. "Sie war ein großes Baby", sagt Kleinmond. Durch die Anregungen der anderen Kinder fing sie an, sich hochzuziehen. Im Team mit Erzieherinnen, Heilpädagogin und Physiotherapeutin und mit den Eltern hätten sie überlegt, wie sie Anna weiter unterstützen könnten. Schließlich fanden sie im Internet eine Kombination aus einem Gehwagen für Kleinkinder und einem Rollator, mit dem Anna dann laufen lernte. Die anderen Kinder feuerten sie an und übten mit ihr geduldig auf dem Gang. "Es ist ein großer Vorteil für unser ganzes Haus, dass wir eine fest angestellte Heilpädagogin haben und externe Fachdienste wie Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und Logopäden ins Haus kommen", sagt Kleinmond. Damit sei die Kooperation aller Beteiligten gewährleistet und sie könnten bei den individuell erstellten Förderplänen an einem Strang ziehen.
Diese enge Vernetzung und Kooperation aller Pädagogen und Therapeuten schätzen vor allem auch die Eltern. Steffis Vater erzählt, wie sehr sich die Belastungen für die Familie verringerten, als Steffi in die Kinderkrippe aufgenommen wurde. Durch die Frühgeburt hatte sie eine Essstörung, die die Eltern manchmal verzweifeln ließ. Zudem war Steffis Mutter von Montag bis Freitag damit beschäftigt, ihre Tochter über viele Kilometer zur jeweiligen Therapiestunde zu fahren. Jetzt habe er ein "stabiles soziales Dreieck" aus Wohnen, Arbeiten und der Betreuung seiner Tochter, sagt der Vater. Über die Jahre seien die Therapeuten für Steffi zu echten Bezugspersonen geworden. Sie gehe fröhlich in die Therapie und kehre dann in ihre Gruppe zurück. Neben der Vernetzung von Betreuung und Therapie ist für Steffis Eltern besonders wichtig, dass ihre Tochter mit ihren Spielkameraden aus der Nachbarschaft in den Kindergarten gehen kann. So hat Steffi ihr soziales Umfeld, das sie auch behalten kann, wenn sie im nächsten Jahr in die Schule kommt.
Ein Drahtseilakt
Die Gemeinde Krailling schätze die in ihrer Einrichtung geleistete Arbeit sehr, sagt Renate Kleinmond. Nicht viele Gemeinden im Umland von München leisteten sich ein so tolles Angebot. Deshalb bestehe die Gemeinde auch darauf, dass zuerst die I-Kinder aus Krailling aufgenommen würden und erst dann Kinder aus den umliegenden Gemeinden. Im Kinderhaus werden insgesamt 134 Kinder in drei Regelgruppen, zwei Integrationsgruppen und zwei Krippengruppen, die auch Kinder mit Förderbedarf aufnehmen, betreut. Insgesamt arbeiten 25 Erzieherinnen, Kinderpflegerinnen und Praktikantinnen in der Einrichtung. "Die Balance zwischen einer optimalen Betreuung und Förderung unserer Kinder und der kostendeckenden Bewirtschaftung unserer Einrichtung ist ein ständiger Drahtseilakt", sagt die Leiterin. Nicht immer würden die zuständigen Stellen den Förderbedarf und die damit verbundenen Kosten genehmigen. Als Hannes’ Mutter verzweifelt einen Betreuungsplatz für ihren Sohn suchte, hat Kleinmond gemeinsam mit ihr für eine individuelle Betreuung gekämpft. "Das hat Eindruck gemacht und wir haben die Förderung bekommen."
Spezieller Förderbedarf von Kindern mit Behinderung
Mit dem Begriff Inklusion hat Kleinmond so ihre Schwierigkeiten. Sie möchte nicht, dass Kinder mit einem besonderen Förderbedarf einfach nur "dazukommen". "In meiner Einrichtung kämpfe ich dafür, dass förderbedürftige und nicht beeinträchtigte Kinder zusammen betreut werden und gemeinsam lernen. Aber das geht nur, wenn die entsprechenden Fördermöglichkeiten mit Personal, Materialien und Räumen bereitgestellt werden." Ein besonderes Problem sieht sie im Grundschulbereich. Es gebe zu wenig Vernetzung zwischen den vorschulischen Betreuungseinrichtungen und den Grundschulen. "Wenn mir von Lehrern gesagt wird, sie gingen ‚ganz unvoreingenommen‘ an das Kind heran, weiß ich, dass das, was wir mit dem Kind, den Therapeuten und Eltern in den letzten Jahren erarbeitet haben, ignoriert wird." Für Kleinmond sollte es in den Grundschulen eigene I-Klassen geben, wo - wie in ihrem Kinderhaus - behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam lernen können, aber keines der I-Kinder auf spezielle Förderung verzichten muss. Davon seien die Grundschulen in der Regel aber noch weit entfernt.