Abitur nicht vorgesehen
Laura Wurzel ist geistig fit - topfit. Vergangenes Jahr hat die 21-jährige Seligenstädterin Abitur gemacht, demnächst wird sie ein Studium der integrativen Heilpädagogik beginnen. Dabei hatten die staatlichen Stellen - allen voran das Schulamt - eine solche Bildungskarriere für sie gar nicht vorgesehen. Eine leichte Gehbehinderung, ein Spasmus in der Hand und eine langsamere Sprache. Keine großen Beeinträchtigung - für das Schulamt Grund genug, sie damals nicht für eine Regelschule zulassen zu wollen. "Intellektuell reif für die Regelschule, körperlich nicht", wird ihr beim obligatorischen Einschulungstest attestiert.
Der Test entscheidet über ihr weiteres Leben
Über die Rahmenbedingungen bei dem Test, kann Laura im Nachhinein nur lachen. "Getestet wurden Dinge, die ich als Körperbehinderte natürlich schlechter kann als andere." So soll sie etwa mit einer Schere eine geometrische Form ausschneiden. Laura Wurzel ist Linkshänderin. Eine entsprechende Schere Fehlanzeige. Durch die körperliche Belastung der Hand kommt es nach einer Weile zum Krampf. Der Stuhl, auf dem sie während dem Test sitzt, ist so hoch, dass ihre Füße den Boden nicht berühren. Woanders wäre das Wettbewerbsverzerrung. Nur dass es an diesem Tag nicht um irgendeine sportliche Disziplin geht, sondern um Lauras schulische Zukunft. Darum, ob sie zu einer Regelschule zugelassen, auf das Gymnasium gehen und ihre Hochschulreife erwerben kann oder ob sie auf eine Förderschule abgeschoben wird und hinterher in einer Behinderten-Werkstatt "versauern" muss, wie sie sagt.
Laura Wurzel hat sich durchgebissen - auch dank der Hartnäckigkeit ihrer Mutter. Die vergangenen zwölf Monate hat sie ihr Freiwilliges Soziales Jahr in einem integrativen Kindergarten in Bad Homburg absolviert. Bei einer Bildungswoche stand auch ein Besuch in einer Behinderten-Werkstätte auf dem Programm. Als sie sieht, wie dort Bauteile im Akkord zusammengeschraubt werden, läuft es ihr kalt den Rücken herunter. ‚Da könnte ich jetzt auch sitzen’, schießt es ihr durch den Kopf - wenn sie und ihre Mutter nicht die anstrengende Odysse durch die Behörden, Ämter und Einstufungstests auf sich genommen hätten. "Das war das grausamste Gefühl, das ich je erlebt habe", sagt Laura Wurzel.
Sie sieht sich als Wegweiserin
Heute sieht sich die junge Frau als eine Wegweiserin in einer Gesellschaft in der immer noch mehr als 80 Prozent der Kinder mit Behinderung in Förderschulen unterrichtet werden. Sie ist davon überzeugt, dass alle profitieren, wenn Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam lernen: "Kinder die mit mir in einer Klasse waren, haben kein Problem mehr mit behinderten Menschen." Mit ihrem Beispiel will sie dazu beitragen, Barrieren in den Köpfen abzubauen.
Obwohl Lauras Bildungskarriere noch jung ist, hat sie schon viel erreicht: so nimmt die von ihr damals besuchte Matthias Grünewald-Grundschule jedes Jahr zwei bis drei Kinder mit Behinderung auf. Auch auf dem Einhard-Gymnasium, wo sie damals das erste Kind mit Behinderung war, gibt es jetzt Integrationsplätze. "Ich habe Glück, dass ich für mich sprechen kann", sagt Laura Wurzel. Später will sie einmal dabei mithelfen, in einem Entwicklungsland eine integrative Einrichtung für Kinder aufzubauen. "Kinder sind der Schlüssel. Damit fängt alles an."