Aus Verantwortung und Neugier
"Das einzige, das uns verband, war die Buslinie", erzählt Andreas Thewalt von dem Tag im Herbst 2016, als er zum Hostel am Zoo in der Heerstraße fuhr, um als ehrenamtlicher Vormund seinen künftigen Mündel kennenzulernen. Hamed, der damals 16-jährige Afghane, war dort als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling mit rund 50 anderen untergekommen. Bei dem Jugendlichen war die Vorfreude groß: "Endlich kommt jemand und hilft mir bei meinen Sachen", habe er damals gedacht. "Ich wollte in die Bibliothek, aber das ging nicht, weil ich nicht unterschreiben durfte", erinnert er sich an eine von vielen Alltags-Hürden, allein in einem fremden Land. Mit dem ehrenamtlichen Vormund seien ihm die Sorgen genommen worden.
Vor ein paar Tagen hat Hamed seinen 18. Geburtstag gefeiert. Mit der Volljährigkeit endete auch die Vormundschaft - nicht aber die Verbindung der beiden Männer. Bei Kaffee und Cola sitzen sie in einem Friedrichshainer Café und erzählen ihre gemeinsame Geschichte.
Hamed floh zunächst mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder aus der Heimat Afghanistan in den Iran. Dort lebten sie fünf Jahre. "Ich habe viel auf der Baustelle gearbeitet. Schwarz, weil ich keinen Pass hatte und wir nur geduldet waren", erzählt er von damals, da war er gerade mal elf oder zwölf Jahre alt. Dann, auf der Flucht nach Deutschland, verlor er Mutter und Bruder. "Das war in der Türkei", sagt er leise. Allein schlug er sich weiter nach Deutschland durch und erfuhr schließlich, dass seine Mutter inzwischen wieder im Iran war.
Als Angela Merkel in Anbetracht der dramatischen Flüchtlingsströme in die Fernsehkameras sagte: "Wir schaffen das!" arbeitete Andreas Thewalt noch als Politik-Journalist. "Ich fand die Aussage richtig", sagt Thewalt, der mittlerweile im Ruhestand ist. "Aber für mich bedeutete das auch: Es funktioniert nicht durch Zugucken. Man muss selbst aktiv werden." Zunächst packte er als ehrenamtlicher Helfer in einer Notunterkunft mit an - half bei der Essens- oder Kleiderausgabe. Mit der Zeit reifte sein Entschluss, sich nachhaltiger zu engagieren.
Er las, dass die Caritas ehrenamtliche Vormünder vermittelt. Die Neugierde habe ihn schließlich getrieben. Nach zahlreichen Gesprächen und vielen Seminarstunden fühlte er sich gut vorbereitet und dennoch war ihm etwas "mulmig": Jugendamt, Ausländerbehörde, Schulsprechtag, Asylrecht, all das sei Neuland für ihn gewesen. "Aber von meiner Arbeit war ich es gewohnt, mit Behörden umzugehen. Da hatte ich keine Scheu." Man wachse relativ gut rein und "hangelt sich von Ast zu Ast".
Für Hamed ist er mittlerweile so etwas wie ein väterlicher Freund geworden. "Nähe wächst", sagt Thewalt, "wir haben schnell einen guten Draht zueinander gefunden". Man bekomme ein Gefühl, wie viel Nähe der Jugendliche will, meint der 62-Jährige, der selbst keine Kinder hat. Als Vormund nehme man eine Zwitterstellung ein, beschreibt es Thewalt - nicht Elternteil, nicht Betreuer wie ihn minderjährige Geflüchtete auch haben, etwas dazwischen. "Ich habe viel mit Hameds Betreuerin und seinen Lehrern geredet, um mir ein Bild zu machen. Das ging reibungslos."
Gemeinsam schafften sie es auch, dass Hamed ein Praktikum als Erzieher machen konnte - als Vorbereitung für den Wunschberuf. Es lief gut. "Aber für die Ausbildung braucht man das Abitur", erklärt Thewalt, "das hat Hamed nicht". Es nachzuholen wäre zu langwierig und zu kompliziert gewesen. Also entschied sich der junge Afghane, Maurer zu lernen. "Da stehen Sie dann auf einmal vor der Frage, ob man für ein Praktikum eine Arbeitserlaubnis braucht und ob es sinnvoller ist, einen Asylantrag oder eine Ausbildungsduldung zu stellen", gibt Thewalt in seine Vormund-Aufgabe Einblick.
Hamed lächelt und schüttelt leicht den Kopf. "So genau höre ich das jetzt auch zum ersten Mal. Ich bin so dankbar, dass er mir da geholfen hat." Ehrgeizig gehe er die Ausbildung an, erzählt Andreas Thewalt und ein wenig Stolz ist in seiner Stimme zu hören. "Anfangs habe ich ihn um fünf Uhr morgens angerufen, um zu hören ob er auch wirklich aufgestanden ist, aber ich habe bald gemerkt: Das läuft."
Die beiden sind ständig in Kontakt - per Whatsapp oder bei einem gemeinsamen Spaziergang. Vor ein paar Tagen waren sie im Kino und die Woche davor im Fußballstadion. Oft treffen sie sich auch einfach in der WG, in der Hamed mittlerweile lebt. "Das war auch so ein Glücksfall", sagt Thewalt, "dass sich diese Möglichkeit ergeben hat".
Neben seiner Ausbildung trainiert Hamed zweimal in der Woche eine Kinder-Fußballmannschaft. "Ich habe das vorher nie gemacht, deshalb habe ich viel in Büchern gelesen, wie das geht." Besonders streng sei er nicht als Trainer, gibt Hamed zu und lacht. "Wir haben Spaß." Außerdem engagiert er sich im Jugendtheater. Sie proben gerade an einem Stück über die Liebe. Bei all dem bleibe aber noch genug Zeit zum Chillen - am liebsten zu Hause mit Freunden.
Hamed plant seine Zukunft in Deutschland: "Nach der Ausbildung möchte ich den Meister machen und eine Familie haben, mit der ich hier lebe." Hameds sehnlichster Wunsch ist es, seine Mutter wiederzusehen: "Ich hoffe, dass ich im Sommer in den Iran reisen kann." Andreas Thewalt hat sich schon schlau gemacht: "Es gibt da eine Reisegenehmigung, die man beantragen kann, aber das ist alles schwierig, ohne Papiere." Der ehemalige Journalist wird dran bleiben, auch wenn sein offizielles Amt für Hamed beendet ist und er bald die Vormundschaft für einen anderen Jungen übernehmen wird.
175 ehrenamtliche Vormünder, die teils zwei bis drei Mündel betreuen, berät und begleitet derzeit der Vormundschaftsverein der Berliner Caritas. Anfangs sei es leicht gewesen, Leute wie Andreas Thewalt zu finden, berichtet Caroline Razzak. Das habe sich geändert. Dabei ist der Bedarf nach wie vor groß. Vier wesentliche Dinge gehören zu den Aufgaben eines Vormunds, erklärt die Sozialarbeiterin: "Schulbildung und Spracherwerb, Klärung der Aufenthaltssituation, angemessene Unterbringung, medizinische Versorgung." Das bedeute etwa drei bis fünf Stunden Zeitaufwand in der Woche.
Außerdem betont Razzak: "Mit der ehrenamtlichen Vormundschaft ist keinerlei finanzielle Unterstützung für den Mündel verbunden und es sind keine rechtlichen Vorkenntnisse nötig. Da steht ihnen die Caritas bei." Caroline Razzak ist überzeugt: "Die ehrenamtliche Vormundschaft ist durch die persönliche private Beziehung einfach das Beste im Sinne einer nachhaltigen Integration."
Der Caritas-Vormundschaftsverein bietet für ehrenamtliche Vormünder einmal monatlich ein Forum über die reguläre Betreuung hinaus. Die Abende sind themenbezogen, man kann individuelle Fragen stellen und sich mit Gleichgesinnten austauschen. Für Interessierte, die überlegen, sich ehrenamtlich zu engagieren, gibt es regelmäßig unverbindliche Informationsveranstaltungen rund um die Themen Vormundschaft und Patenschaft.
Kontakt:
Caroline Razzak
c.razzak@caritas-berlin.de
www.caritas-berlin.de/vormundschaft