Krankenhaus mit Selbstbedienung
Sozialcourage: Ein Schwerpunkt ihrer Reise waren Exkursionen im Bereich der Altenhilfe. Wie ist diese in China aufgebaut und finanziert?
Thomas Domnick: Traditionell werden alte Menschen in China von ihren Familien gepflegt und versorgt. Da aber viele - besonders junge Menschen - in die Städte ziehen, um Arbeit zu finden, bleiben deren Eltern in den ländlichen Gebieten sich selbst überlassen.
Staatlich finanzierte Altenheime gibt es jedoch nicht in ausreichender Zahl. Eines dieser Altenheime haben wir in Nanchang besucht. Im Heim leben 1700 Bewohnerinnen und Bewohner, die von 400 Mitarbeitenden versorgt werden. Diesem Altenheim ist eine Geriatrie angeschlossen.
Zudem gibt es private Altenhilfezentren. Ein solches haben wir in Songjiang, einer chinesischen Kleinstadt mit zwei Millionen Einwohnern besucht. Dort leben 15.000 Seniorinnen und Senioren in altersgerechten Wohnungen, wir würden es als betreutes Wohnen bezeichnen. Von einem Zentrum aus werden Gesundheits- und Pflegeleistungen erbracht. Senioren können sich über das Internet medizinisch beraten lassen und bekommen Hilfestellungen durch das Zentrum. Da die Menschen in China bereits mit 60 Jahren in Rente gehen, sind viele der "Alten" noch recht jung und fit. Ein schön gestaltetes Restaurant, ein eigenes Modelabel und viele weitere Annehmlichkeiten stehen zur Verfügung. Diese Versorgung können sich natürlich nur die wenigsten leisten.
Sozialcourage: Sie haben auch Einrichtungen im Bereich des Gesundheitswesens besucht. Was sind hier Ihre Eindrücke?
In China gibt es keine niedergelassenen Ärzte. Die gesamte Gesundheitsheitsversorgung findet im Krankenhaus statt. Regional gibt es kleinere Gesundheitszentren, in den größeren Städten Krankenhäuser der zweiten Klasse und in den Großstädten dann Universitätskrankenhäuser. Wir haben z.B. das erste Krankenhaus von Nanchang besucht. Dort gibt es zunächst einmal einen "Selbstbedienungsbereich" für Menschen, die Verbandsmaterial u.ä. benötigen. Der Zugang zu einem Arzt erfolgt über eine Selbstregistrierung, ein Arzt hat im Durchschnitt drei bis fünf Minuten Zeit für einen Patienten.
Daneben gibt es auch private Krankenhäuser, die nach westlichen Standards ausgestattet sind und in denen teils deutsche Ärzte arbeiten. Der Staat zahlt 30 Prozent der Kosten - auch in privaten Kliniken - 70 Prozent der Kosten müssen jedoch aus Eigenmitteln erbracht werden. Aufgrund des hohen Eigenanteils sparen viele Menschen für den Notfall oder müssen sich verschulden, wenn sie ins Krankenhaus müssen.
Sozialcourage: Stichwort Menschenrechtsverletzungen oder Internetzensur. Sie sind ja mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen. Wie erleben diese das System - sind sie damit zufrieden oder empfinden sie es als repressiv?
Die Menschen mit denen ich gesprochen habe, wirkten sehr im chinesischen System verankert. Die Internetzensur wurde von meinen Gesprächspartnern so nicht erlebt. In China gibt es statt Internet ein landesweites Intranet, einen chinesischen Messengerdienst, ähnlich Whats App, Facebook und Google in chinesischen Varianten.
Grundsätzlich loben die Menschen die Leistung ihrer Regierung, sie habe 500 Millionen Menschen aus der Armut geführt, vielen geht es tatsächlich besser als vor wenigen Jahren. Der wirtschaftliche Fortschritt hat dazu geführt, dass es den Kindern besser geht als ihren Eltern. Pro Jahr schließen acht Millionen Studierende ihr Studium ab. China entwickelt sich in weiten Teilen von einem Schwellenland zu einem Hochtechnologieland. Diese enorme wirtschaftliche Entwicklung macht die Menschen zufrieden. Die chinesische Regierung will weg vom Image der "Werkbank der Welt" zum Hightech-Land.
Sozialcourage: Sie haben gerade die vielen Studierenden erwähnt. In Deutschland ist der demographische Wandel das zentrale Zukunftsthema. Wie sieht dies in China aus?
Auch in China gibt es den demographischen Wandel, der durch die Ein-Kind-Politik der vergangenen Jahrzehnte noch verschärft wird. In China werden bis zum Jahr 2040 mehr als 30 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein, das sind mehr als 400 Millionen Menschen. Bereits heute ist dort - analog zu Deutschland - ein Fachkräftemangel in der Alten- und Gesundheitshilfe spürbar. Insofern ist der Ausbau dieser beiden Bereiche zentral für die Zukunft und wird mithilfe ausländischer Firmen und Investoren vorangetrieben.
Sozialcourage: Haben Glaube und Religion eine Bedeutung in China?
In China gibt es sehr viel Religionen und Philosophien, weit verbreitet ist der Ahnenkult. Der Anteil der Christen beträgt zwischen zwei und sechs Prozent, wobei die katholische Kirche in eine "offizielle" und eine im Untergrund existierende gespalten ist. Darüber hinaus habe ich Glaube und Religion nicht als tragend oder gar sinnstiftend wahrgenommen. Für viele Chinesen scheint mir das Geld die Religion zu sein. Ich sagte ja bereits, wie mich der Kapitalismus in Reinform dort erschreckt hat. Geld und Profit scheinen Sinn und Ziel des Daseins. Unser Guide in Shanghai sagte, dass es bei ihnen keine Kirchen gäbe, dann könnten die Geschäfte auch sonntags geöffnet sein und der Profit wäre dadurch gesteigert.
Sozialcourage: Danke für das Interview!
Interview: Marie-Christin Böhm