"Gibt es uns eigentlich auch noch?"
Sieben Jahre pflegte Brigitte Rudiger aus Kirchzarten ihre Mutter, versorgte ihre Familie und bewältigte ihren Job. Dabei lernte sie das Spannungsfeld zwischen Pflege, Familie und Beruf kennen. Heute engagiert sie sich in der Interessenselbstvertretung pflegender Angehöriger (IspAn) und wirbt um Anerkennung und Unterstützung für das, was pflegende Angehörige leisten.
Wie hat sich die Pflegesituation zu Hause auf Ihr Familienleben ausgewirkt?
Man ist ständig im Spannungsfeld zwischen der Mutter, die ihre Zeit braucht, die den Anspruch auch einfordert, und der Familie, die genauso viel Zeit braucht. Ich habe das als schwierige Anspannung erlebt. Mein Mann hat oft gesagt: „Gibt es uns eigentlich auch noch?“ Meine Kinder haben gesagt: „Mama, so etwas kannst du von uns nicht erwarten.“ Ich musste der zu pflegenden Mutter, der Familie und irgendwann mir selbst gerecht werden. Und das letzte bleibt als erstes auf der Strecke.
Wann haben Sie gesagt: „Ich brauche jetzt externe Hilfe, weil wir es nicht mehr stemmen?“
Nach etwa drei bis vier Jahren. Ich wusste noch nicht in welcher Art, in welcher Form, aber es war klar: Ich brauche Hilfe. Die besondere Herausforderung war in meinem Fall die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Das hat damit zu tun, dass ich bei der Arbeit nicht hundertprozentig sein konnte, zuhause bei der Pflege aber auch nicht. Es blieb immer irgendwo etwas auf der Strecke. Diese Zusatzbelastung hat mir deutlich gemacht, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
War es für Ihre Mutter schwierig zu akzeptieren, dass die Tochter mit ihrer Familie nicht mehr allein pflegt, sondern Hilfe von außen holt?
Absolut. Meine Mutter kam gar nicht auf die Idee, dass da irgendjemand anderer an meine Stelle treten könnte. Das war vom Generationenvertrag so vorgesehen, so kennt man das ja von früher, dass ein Kind diese Aufgabe übernimmt.
Konnten Sie sich irgendwo Rat holen, welche Hilfemöglichkeiten es gibt?
Ich kam eigentlich nicht weiter als bis zur Pflegekasse. Das war meine Stelle, bei der ich wusste, da kann ich hingehen, anrufen, mindestens mit jemandem über die Angebote und finanzielle Hilfe, die mir zusteht, sprechen. Wobei ich allerdings auch gemerkt habe, wie viel Kraft und Energie man braucht, um dies alles zu bewerkstelligen. Es existierte zwar damals schon eine Beratungsstelle, auf die ich aber erst über Umwege aufmerksam wurde. Das ist auch heute noch so, dass Angebote von pflegenden Angehörigen einfach nicht wahrgenommen werden. Und es gab den Pflegestammtisch noch nicht, den es jetzt gibt. Es gab aber einen geleiteten Gesprächskreis in der Nähe, auf den ich per Zufall gestoßen bin.
Was wünschen Sie sich an Unterstützungsmöglichkeiten?
Ich wünsche mir auf jeden Fall einen starken Ausbau der Tagespflege. Etwa in der Mitte des Pflegeprozesses wurde eine Betreuungsgruppe gegründet für einen halben Tag in der Woche. Für mich war das ein ganz wichtiges Angebot am Anfang. Mit der Zeit war es aber so, dass der Aufwand, die Mutter dahin zu bringen und wieder zu holen, fast höher war als die drei Stunden, die ich freie Zeit hatte. Deshalb bin ich der Meinung, dass der Ausbau der Tagespflege sehr notwendig ist.
So wie es die Ganztagesangebote für Kinder gibt, bräuchte es auch einen Ausbau der Ganztagesangebote für die zu Pflegenden?
Ja. Das ist für mich ein Schwerpunkt in meiner ehrenamtlichen Tätigkeit bei IspAn. IspAn ist eine Interessenselbstvertretung pflegender Angehöriger. Die Pflegesituation muss sich analog zur Kinderbetreuungssituation entwickeln. Die damit verbundene Herausforderung ist mindestens genau so groß, wenn nicht sogar größer.
Für was setzen Sie sich konkret bei IspAn ein?
Mir geht es hauptsächlich darum, dass die Gruppe der pflegenden Angehörigen in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass man Mitleid entgegen bringt. Für mich ist das eine politische Aufgabe. Wir haben hier in Kirchzarten überlegt, wer sich noch beteiligen könnte und so bin ich auf Gemeinderätinnen gestoßen. Wir haben auch, und ich wähle diesen Begriff bewusst, zwei „Mitschreiterinnen“ gewinnen können, die derzeit mitarbeiten. Das ist genau der richtige Weg.
Was erhoffen Sie sich durch eine Zusammenarbeit mit der Politik?
Dass eine Gemeinde sich die Frage stellt: Wie gehen wir in Zukunft mit älteren Menschen, mit Pflegenden um? Was können wir in unserer Gemeinde verbessern? Wir müssen gemeinsam darüber nachdenken, welche Strukturen die ambulante Pflege zuhause braucht. Dazu gehört auch, welche Möglichkeiten es an stationärer Pflege oder alternativen Wohnformen gibt. Ein anderer Gedanke ist das Pflegeforum, das jede Gemeinde für sich ins Leben rufen kann. Hier können sich pflegende Angehörige, Pflegedienste und kommunale Politiker austauschen, können sich die verschiedenen Betroffenen an den Tisch setzen, an Lösungsmöglichkeiten arbeiten und vor allem auch an einem Verständnis füreinander arbeiten.
Was braucht es aus Ihrer Sicht an Beratung und Begleitung speziell für die pflegenden Angehörigen?
Wir haben in Kirchzarten einen Pflegestammtisch eingerichtet. Es ist wichtig, um die Probleme pflegender Angehöriger zu wissen und ihnen einen Möglichkeit zum Austausch zu schaffen. Der Pflegestammtisch wächst und wird inzwischen sehr in Anspruch genommen. Es kommen Leute aus verschiedenen Bereichen der Pflege. Da merkt man ganz klar den Bedarf für diesen persönlichen Austausch, der für pflegende Angehörige unglaublich wichtig ist. Man muss es sich ähnlich und vergleichbar einer Selbsthilfegruppe vorstellen. Man tauscht sich aus, man lernt voneinander. Es ist unglaublich, welche Themen hoch kommen. Begleitend dazu und daraus resultierend ist eine Beratungsstelle, ganz gleich in welcher Form, unverzichtbar, zum Beispiel Pflegestützpunkte oder Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände.
Welche Erwartung verbinden Sie mit dem Caritas-Jahresthema „Familie schaffen wir nur gemeinsam“?
Das heißt für mich ganz klar, dass die Pflege in der Familie nach außen transportiert wird. Pflege hat in der Familie ihre Heimat – ist aber auch eine große gesellschaftspolitische Verantwortung. Das bedeutet für mich, dass der Fokus mindestens genauso stark auf die Pflege gerichtet wird wie auf die Kindererziehung. Und ich wünsche mir, dass der Stellenwert der häuslichen Pflege mindestens genauso hoch angesetzt wird wie für die Kindererziehung.
Wenn man sIch zur Pflege zuhause entschließt, sollte das unter anderem mindestens in der Altersversorgung entsprechend honoriert werden. Zum Beispiel für ein Jahr Pflege in der Pflegestufe I macht das dann bei der Rente gerade einmal 7 Euro pro Monat mehr aus. Da gilt es die Politik darauf aufmerksam zu machen.
Weitere Infos zu IspAn
Gabriele Zeisberg-Viroli, Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg, Alois-Eckert-Straße 6, 79111 Freiburg, 0761 8974-231, zeisberg-viroli@caritas-dicv-fr.de, www.dicvfreiburg.caritas.de.