Ersatzfamilie für belastete Kinder
Über seine Kindheit möchte Sebastian (13) nicht sprechen. Gewalterfahrungen in seiner Herkunftsfamilie haben bei ihm Spuren hinterlassen. Seine Mutter, eine Frau mit psychischen Problemen, hatte ständig wechselnde Partner. Wie seine drei Halbgeschwister lebte Sebastian bis vor zweieinhalb Jahren in einer Wohngruppe im Caritas-Kinderdorf Marienstein, einer heilpädagogischen Einrichtung für verhaltensauffällige Kinder. Eine Halbschwester konnte mittlerweile zu ihrem Vater ziehen, eine andere in eine Wohngruppe für Jugendliche in Weißenburg. Sein Halbbruder geht seinen Weg in einer Wohngruppe des Kinderdorfes. Doch für Sebastian schien es keine wirklichen Perspektiven zu geben. In seine Herkunftsfamilie oder zumindest zu einem Elternteil konnte er nicht zurück – dies ist grundsätzlich ein wesentliches Ziel des Caritas-Kinderdorfes. Und in der Wohngruppe war mit ihm aufgrund seiner von früher herrührenden Bindungsstörung vieles äußerst problematisch. „Er ist bei den kleinsten Frusterlebnissen ausgeflippt, wurde immer wieder aggressiv“, berichtet Lisbeth Wolkersdorfer, Erziehungsleiterin im Kinderdorf.
Zukunftsweisende Betreuung
Doch für den „Fall mit vermeintlich düsterer Zukunft“ führten die Verantwortlichen in der Einrichtung vor zweieinhalb Jahren eine zukunftsweisende Betreuungsform ein: die Erziehungsstelle. Sie fanden für Sebastian Erzieherin Josefa Oschwald. Sie nahm Sebastian in ihre Familie im mittelfränkischen Ellingen auf, um sich ihm dort gleichermaßen professionell wie familiär zu widmen. Dafür ist sie beim Kinderdorf mit einer halben Stelle angestellt. Als Sebastian zu ihr, ihrem Mann und ihren Kindern kam, machte das übersteigerte Bedürfnis des Jungen, eine Familie zu haben, der Erzieherin durchaus zu schaffen: „Er war total anhänglich und ist mir überall hinterhergelaufen: ob in den Garten, in den Keller oder beim Einkaufen.“ Doch inzwischen zeigt ihre Arbeit Früchte: „Heute ist er schon viel ruhiger und geht auch mal alleine auf sein Zimmer, um Musik zu hören“, so Frau Oschwald. Und auch in der Schule zur Erziehungshilfe im Kinderdorf, in die er weiterhin geht, ist vieles besser geworden. Noch läuft nicht alles in seiner Entwicklung optimal: Josefa Oschwald wünscht sich, dass Sebastian mehr Kontakt zu anderen Jugendlichen sucht. Doch dieser will nur selten das Haus verlassen. Immerhin tut er es ab und zu: Er geht zum therapeutischen Reiten. „Das fördert sein Körpergefühl und seine Selbstsicherheit“, so Psychologe Reinhold Vögerl aus dem Kinderdorf, der die Oschwalds fachlich berät. Und Sebastian trägt Zeitungen aus. Von den Einnahmen will er ein Hundesofa kaufen: für Familienhund Billi, mit dem der Junge besonders gerne seine Zeit verbringt. „Vielleicht möchte ich später einmal in einem Tiergarten arbeiten“, entwickelt er auch schon Zukunftsideen.
Rückbindung an Einrichtung wichtig
Mittlerweile hat das Caritas-Kinderdorf drei weitere Erziehungsstellen eingerichtet. Leiter Bernardin Porstner hält sie für die beste Betreuung in Fällen, in denen schwierige Kinder keine Perspektive haben, in ihre Ursprungsfamilie zurückzukehren, mit denen eine Pflegefamilie überfordert wäre, „und denen man aber auch eine längere Heimkarriere ersparen sollte“. Lisbeth Wolkersdorfer erscheint es wichtig, dass auch diese professionelle Erziehung in einer Ersatzfamilie an eine Einrichtung rückgebunden ist. Die positive Entwicklung bei Sebastian war nach Erfahrung der Erziehungsleiterin nur möglich, da am Anfang in der Erziehungsstelle eine Krise mit Hilfe des Kinderdorfes überwunden werden konnte. Damals fühlte sich Sebastian noch nicht richtig der Familie zugehörig. Daher führte Frau Wolkersdorfer mit ihm Gespräche. „Auch die langjährige therapeutische Begleitung durch eine Psychologin des Kinderdorfes wirkte sich in diesem Zusammenhang positiv aus. Aufgrund einer gemeinsamen Anstrengung konnte die Familie dann durch die Krise mehr zusammenwachsen“, so die Erziehungsleiterin.
Das Kinderdorf schaltet immer wieder Anzeigen, um weitere „Sozialprofis“ als Erziehungsstellen zu gewinnen. „Doch es ist schwierig. Schließlich nehmen Familien ein belastetes Kind auf. Aller Respekt vor denen, die dies tun“, meint Bernardin Porstner.
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