Gemeinschaft von Experten in eigener Sache
Sie kommen immer montags, Punkt 19 Uhr. Mal zwölf, mal 24, mal mehr. Heute 14. Was sich nach Kegelclub oder Skatturnier anhört, ist real wesentlich ernster. Denn hier geht’s nicht um einen Grand mit Vieren oder alle Neune. Es geht um Abstürze, Rettung, Verzweiflung und Geborgenheit. Am Montag trifft sich die Laupheimer Gruppe des Kreuzbunds, der Selbsthilfevereinigung von Abhängigkeitskranken.
Jeder im Raum kann von „netten Erlebnissen mit dem Alkohol“ erzählen. Doch aus Nettigkeiten wurde irgendwann Ernst. Und aus Ernst wurde Lebenskrise, Lebenslüge, Absturz, Verlust von Freunden und Selbstachtung. Auch Gerd, der wie alle anderen in dieser Geschichte in Wirklichkeit ganz anders heißt, kam nicht mehr vom Alkohol weg. In der Kreuzbundgruppe halfen ihm „ganz tolle Leute“, ins Leben zurückzufinden. Andreas erzählt, wie er sich von Klinik zu Klinik hangelte. Irgendwann machte es bei ihm klick: „Ich muss aus dem Schlamassel raus!“ 2004 versaute er sich zuletzt das Weihnachtsfest mit seiner Trunksucht. Seit acht Jahren ist er jetzt trocken. Das packte er nur, weil er einen guten Hausarzt hatte – und die Kreuzbund-Gruppe.
2004 zuletzt Weihnachten versaut
Das Rezept der Gruppe, die hier im beschaulichen Oberschwäbischen seit 1980 existiert, ist so einfach wie wirkungsvoll: Man ist füreinander da. Man sitzt im Kreis, man ist per Du, man ist direkt, denn alle wissen: Was hier gebeichtet wird, bleibt in diesem Raum. Das gehört zu den ehernen Gesetzen, ohne die keine Kreuzbundgruppe funktioniert. Denn hier spricht man über Therapie-Erfahrungen, Erfolge und Niederlagen beim Entzug und über den eigenen Weg in die Abhängigkeit. Die anderen hören zu, versuchen zu verstehen, zu akzeptieren und einen guten Rat zu geben. Dieses Verständnis füreinander – das hilft. Gisela sagt: „Ich weiß, ich kann jederzeit ein Gruppenmitglied anrufen.“ Allein das beruhigt.
Für Verena, seit fast 14 Jahren trocken, gibt es kein Zurück mehr, da ist sie sich sicher. 2007 gründete sie sogar eine eigene Frauengruppe („Unter Frauen erfährt man in kürzester Zeit mehr als in der gemischten Gruppe in Jahren!“). Die Frauengruppe war für Sandra die Rettung: „Eine gemischte Gruppe hätte ich nicht gepackt.“ Die Frauengruppe schon. Hier fand sie Halt. In schwachen Momenten, wenn das Rotwein-Glas wieder in Reichweite ist, denkt Sandra an ihre Kreuzbund-Mitstreiter: „Was würden die dazu sagen, wenn ich jetzt wieder trinke?“ Allein der Gedanke hält sie vom Trinken ab.
Als „abschreckendes Beispiel“ dienen
Die Kreuzbund-Gruppe lebt von der Unterschiedlichkeit der zurzeit 35 Mitglieder im Alter zwischen 36 und 73 Jahren, darunter Alkohol- und Drogensüchtige, trockene und nasse Alkoholiker, Abhängige mit und ohne Entzug, ewig Abstinente und Rückfällige. Jeder hilft dem Nächsten – zur Not auch als „abschreckendes Beispiel“. Der Absturz des einen ist Warnung für die anderen. Andererseits motivieren diejenigen, die es gepackt haben („Ich bin glücklich, wenn ich euch alle trocken sehe. Dann schaffe ich’s auch.“). Wieder andere sind getröstet, dass andere dieselben Probleme haben: „Du bist nicht der Einzige, der Alkohol versteckt.“
Ein Abhängiger trägt seine Sucht lange, zu lange mit sich herum. Betrügt sich selbst. Redet sich zunächst ein, er habe das mit dem Alkohol im Griff. Doch irgendwann geht es ohne den Stoff keinen Zentimeter weiter. Dann erfindet man Strategien. Wie man die Sucht vor Familie und Kollegen verbirgt. Wie man Alk-Lager anlegt, den Kleiderschrank mit Sektflaschen füllt oder den Flachmann im Aktenordner versteckt. Funktionieren tut das nie. Roland: „Ich dachte immer, im Betrieb wüsste keiner von meiner Sucht. Tatsächlich haben es alle gewusst.“ Nächste Phase im So-Weitermachen: die eigene Sucht schön reden. Viel schlimmer ist immer die Sucht der anderen. Die der Heroin-Abhängigen zum Beispiel. Da ist die überall erhältliche, verfügbare, zudem „legale Droge Alkohol“ doch ein Klacks. Oder?
Kleiderschrank voller Sekt
Nein, kein Klacks. Irgendwann kracht bei jedem das Kartenhaus zusammen. Wie bei Jürgen. In seiner 45-jährigen Alkohol-Karriere war er mal zehn, mal fünf Jahre absolut clean. Dann der totale Rückfall mit Konsequenzen: Autounfall, Polizei, Lappen weg. Jürgen kam in die Kreuzbund-Gruppe. Und will jetzt nicht mehr raus. Genau wie Nadja, die nach etlichen Abstürzen jetzt endgültig trocken ist. Das hofft sie zumindest. Sie hängt an der Gruppe: „Ich muss unbedingt in die Gruppe, sonst geht es nicht.“
Nur Thomas ist anders. Thomas war nie abhängig. Thomas ist Angehöriger. Seit seine Frau dem Alkohol verfiel, rührte auch er keinen Tropfen Alkohol mehr an. Ist jetzt trocken, obwohl er nie nass war. Aber er ist ehrlich: „Wäre bei mir die Diagnose gestellt worden ‚Sie sind Alkoholiker’ – ich weiß nicht, ob ich das geschafft hätte.“ Gut tut er der Gruppe allemal: An ihm sehen die Alkoholiker, wie es ihren Angehörigen geht. Andreas formuliert es so: „Die Abhängigkeitskranken werden von hinten und vorne gepudert, aber um die Angehörigen kümmert sich erstmal keiner.“ Wie wichtig Angehörige sind, sagt Roland. Seine Frau lebt ihm seit 40 Jahren vor, wie man ohne Alkohol leben kann. Das hat Rolands Leben leichter gemacht. Sein Freundeskreis hat sich zwar halbiert, „aber die Hälfte, die übrig blieb, hält zu mir“.
„Wo du bist, da war ich schon“
Thorsten hat mit seinen 72 Jahren sogar die Seiten gewechselt. Nachdem er seinen Führerschein wegen Alkohol verloren hatte, kam er „eher zufällig“ in die Kreuzbund-Gruppe. Inzwischen hat er vom Sucht- in den Helfermodus umgeschaltet: „Wenn ich helfen kann, helfe ich.“ Und weil er die Kurve durch die Gruppe kriegte, sagt er den anderen 13 in der Runde an diesem Abend ins Gesicht: „Ich möchte mich bei euch allen bedanken.“ Das tut gut.
In der Selbsthilfe wird die Krankheit zum großen Plus. Jeder Abhängige ist Experte in Sachen Sucht. Seinen Erfahrungsschatz setzt er ein, beispielsweise in der Begleitung alkoholauffälliger Patienten im Krankenhaus. „Die Suchtberater sind blanke Theoretiker, die sie gar nicht verstehen“, sagt Andreas. „Aber wenn ich zu denen gehe, die gerade ihren Absturz hatten, dann sage ich denen: ‚Ich weiß genau, wie es dir geht. Denn ich war schon da, wo du jetzt bist.’ Und mir nehmen die das ab.“
Wie groß die Versuchung bleibt, weiß in der Laupheimer Gruppe jeder. Schon dann, wenn Nadja im Fernsehen Werbung für Alkohol sieht, wird sie zittrig: „Da geht was total Hysterisches mit mir ab.“ Wer die Phasen des Alkoholikers erlebt hat, weiß, dass das Schicksal „Alkoholabhängigkeit“ bedeutet: lebenslänglich. Oder, wie Jürgen das ausdrückt: „Vor dem Alkohol ist man nie mehr sicher.“
Der Kreuzbund
Die katholische Sucht-Selbsthilfevereinigung der Abhängigkeitskranken hat heute bundesweit rund 1500 Gruppen mit etwa 30000 Teilnehmern, darunter Suchtgefährdete, Abhängige und deren Angehörige. Der Kreuzbund sensibilisiert für Gefahren des Alkohols an Schulen, am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit und kooperiert mit Fachkliniken und Suchtberatungsstellen. Die Kreuzbund-Gruppen arbeiten eigenverantwortlich. In der Gruppe finden die Menschen Halt und entdecken ihre Fähigkeit zur Selbsthilfe. Auch ihre Angehörigen als Mit-Betroffene finden hier Hilfe.
Historie
1896 Gründung als „Katholischer Verein gegen den Missbrauch ‚geistiger Getränke’“
1901 Eröffnung der ersten katholischen Trinkerheilstätte „St. Kamillus-Haus“ in Essen-Heidhausen
1909 Nur abstinent lebende Personen dürfen Mitglied werden
1964 Einführung der modernen Gruppenarbeit im Kreuzbund unter Einbeziehung der Partner. Alkoholismus wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als behandlungsbedürftige Krankheit anerkannt
1968 Bundessozialgericht erkennt Alkoholismus als Krankheit an
1998 Erstmals erhält der Kreuzbund Fördergelder aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung
2004 Die Totalabstinenz für alle Mitglieder wird abgeschafft. Sie gilt künftig nur noch für Suchtkranke; Angehörigen wird sie freigestellt