Psychische Belastungen nehmen zu
Im Februar dieses Jahres legten die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) und die Techniker Krankenkasse (TK) ihre aktuellen Gesundheitsreporte vor. Darin stellen beide einen alarmierenden Anstieg psychischer Erkrankungen unter Arbeitnehmern fest, bei insgesamt gleichbleibendem Krankenstand. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Fehlzeiten durch psychische Diagnosen demnach um fast 14%. Nach Angaben der DAK machen Depressionen und andere psychische Leiden heute ein Achtel des gesamten Krankenstandes aus und spielen damit eine fast doppelt so große Rolle wie noch 1998. Davon betroffen sind zunehmend auch Jüngere, vor allem in Form psychosomatischer Störungen. Als mögliche Ursachen hatte die TK an anderer Stelle zunehmenden Leistungsdruck sowie emotionale Erschöpfung aufgrund lang anhaltender Sorge um die Wirtschaftslage und um den Arbeitsplatz genannt.
Die von den Krankenkassen festgestellte Entwicklung wird auch in der Allgemeinen Lebens- und Sozialberatung der Caritas in Schleswig-Holstein sichtbar. Ein Vergleich der Statistik der Beratungsstellen von 2006 und 2010 zeigt interessante Tendenzen.
Immer mehr Berufstätige sind auf staatliche Unterstützung angewiesen
Die Zahl der Ratsuchenden an den vier Standorten Flensburg, Kiel, Lübeck und Neumünster hat sich kaum verändert. Alle Beratungsstellen werden unverändert stark frequentiert mit etwa 160 bis 170 Ratsuchenden und 800 bis 900 Beratungen pro Jahr. 2010 kamen etwas weniger Rentnerinnen und Rentner in die Beratung, dafür mehr Menschen in der Altersgruppe 45 bis 65 Jahre. Nach wie vor sind über die Hälfte der Ratsuchenden verheiratet und haben Kinder, etwa 25% sind geschieden bzw. leben getrennt.
Geändert hat sich hingegen die Erwerbssituation. Während in beiden Jahren etwa die Hälfte der Ratsuchenden arbeitslos und nur 10% voll berufstätig war, hat die Zahl derjenigen, die in Teilzeit beschäftigt sind, deutlich zugenommen: von 4,2% in 2006 auf 12,1% in 2010. Viele Teilzeitbeschäftigte sind neben ihrem Einkommen auf staatliche Unterstützung angewiesen. Arbeit ist bereits seit einigen Jahren kein Garant mehr dafür, dass man seinen Lebensunterhalt ohne staatliche Unterstützung bestreiten kann, und dies nimmt stetig weiter zu.
Fast 50% der Ratsuchenden haben psychische Probleme
In der Allgemeinen Lebens- und Sozialberatung von Caritas erfahren die Ratsuchenden sowohl Unterstützung in sozialrechtlichen Fragen und existenziellen Nöten als auch bei psychischen Belastungen und familiären Konflikten. Die Beratungszahlen zu existenziellen Fragen wie Wohnung, Arbeitslosigkeit und vor allem finanziellen Problemen sind unverändert hoch. Etwa 60% der Ratsuchenden hatten in beiden Zeiträumen Beratungsbedarf zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten, konnten mit ihren finanziellen Mitteln ihren Alltag kaum noch bewältigen. Deutlich zugenommen haben als Folge dieser lang andauernden Alltagsbelastung die gesundheitlichen und psychischen Störungen (siehe Grafik).
Fast 60% der Ratsuchenden hatten 2010 gesundheitliche Probleme (gegenüber etwa 35% in 2006) und fast 50% hatten psychische Probleme (gegenüber 36% in 2006). Zukunftsängste und psychische Belastungen spielen bei Menschen, die nur teilweise oder gar nicht am Erwerbsleben teilhaben, eine noch größere Rolle als bei vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern. Bei Arbeitslosen lagen die Beratungen zu psychischen Problemen noch über dem Durchschnittswert.
Die Anforderungen an die BeraterInnen sind durch diese Entwicklung in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Gerade die psychosozialen Beratungen sind zeitintensiver und es handelt sich in der Regel um längerfristige Beratungsprozesse. Die Allgemeine Lebens- und Sozialberatung der Caritas ist in Schleswig-Holstein nötiger denn je und braucht die Unterstützung von Caritas und Kirche. Dieser Dienst muss auch in Zeiten knapper werdender Finanzen erhalten bleiben, damit wir den eigenen Anspruch aufrecht erhalten können, der im Leitbild des Deutschen Caritasverbandes so formuliert ist: „Vornehmstes und ureigenstes Ziel aller Caritasarbeit ist es, Menschen, insbesondere benachteiligte und schwache, vor Ausnutzung, vor Ausgrenzung und zugleich vor Vereinnahmung zu schützen und ihre Selbsthilfekräfte anzuregen.“
NORBERT SCHMITZ
Kontakt:
Norbert Schmitz
Telefon: 0431 5902-20
Kraft schöpfen in der Gruppe
Ergänzend zur Allgemeinen Lebens- und Sozialberatung bietet die Caritas in Lübeck seit vielen Jahren eine "Gesprächs- und Selbsterfahrungsgruppe für Frauen mit psychischen Problemen" an. Jeweils zehn bis zwölf Frauen treffen sich ein Jahr lang wöchentlich, auch während der Ferien. Der Bedarf ist groß, freie Plätze werden sofort wieder besetzt und mehrfach haben sich im Anschluss Selbsthilfegruppen daraus entwickelt.
"Depressionen werden häufig vom Arzt nicht erkannt", sagt Dorothee Martini, Dipl. Sozialarbeiterin und Gestalttherapeutin beim Caritasverband Lübeck, die die Gruppe leitet. Wenn existenzielle Sorgen dazu kommen, die Angst um die Zukunft lähmend wirkt und schon alltägliche Dinge zu viel werden, gerät man in einen Teufelskreis. "Dann ist es sehr schwer da wieder rauszukommen", so Martini.
Die Probleme der Frauen sind vielfältig. Da ist die berufstätige Mutter von drei Kindern, die unter der Mehrfachbelastung zusammengebrochen ist und nach einem Klinikaufenthalt keinen Therapieplatz bekam. Oder die in Zeitarbeit beschäftigte Migrantin, die immer wieder Lohnkürzungen hinnehmen muss und große Angst hat weiter abzurutschen. "Druck ist ein großes Thema in der Gruppe", sagt Dorothee Martini, "auch der eigene Anspruch: Ich will oder muss funktionieren." In der Gruppe erfahren die Frauen Sicherheit, Verständnis und wechselseitige Unterstützung, gemeinsam erarbeiten sie Konfliktlösungen.
ASTRID HEYER