Geraubte Kindheit
Unter großem Interesse wurde am 20. Februar 2011 im Bernhard-Lichtenberg Haus das Buch "Geraubte Kindheit - Erlebnisse russischer Kinder und Jugendlicher in deutschen Arbeitslagern" vorgestellt. Gut 150 Gäste konnten begrüßt werden. Auf der anschließenden Podiumsdiskussion berichteten Zeitzeugen von Ihren Erlebnissen und ihrem Antrieb, diese zu veröffentlichen.
Mehr als 13 Millionen Männer, Frauen und Kinder aus fast allen Ländern Europas wurden zwischen 1939 und 1945 als Fremdarbeiter, Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge nach Deutschland verschleppt. Weitere sieben Millionen mussten in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten Zwangsarbeit leisten, so die Ergebnisse neuerer historischer Forschung. So groß die Freude über die zahlreichen Besucher, so ernst und bedrückend das Thema der Veranstaltung am 20. Februar im Bernhard-Lichtenberg Haus. Dies war der Tenor der Begrüßung durch die Vorsitzende der Caritas-Konferenzen Berlin, Helga Herting und Caritasdirektor Franz-Heinrich Fischler.
Erst die persönlichen Erlebnisse jeder und jedes Einzelnen machen begreifbar, welcher Schrecken sich hinter diesen abstrakten Zahlen verbirgt. Die Möglichkeit, sich auf diese Geschehnisse einzulassen zu können, bietet fortan die Publikation "Geraubte Kindheit - Erlebnisse russischer Kinder und Jugendlicher in deutschen Arbeitslagern", in der 25 Menschen ihre Erinnerungen zusammenführen. Mit ihren eigenen Worten stellen sie erstmals das unvorstellbare Leid und die seelischen Qualen von russischen Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt, die im Zweiten Weltkrieg, gemeinsam mit ihren Müttern und Großmüttern, in deutschen Zwangsarbeitslagern zubringen mussten.
Angelika Westphal, gemeinsam mit Ruth Keseberg-Alt Herausgeberin des Buches, las einzelne Passagen der Veröffentlichung vor. Erinnerungen an das Totschlagen wegen einer gestohlenen Kartoffel, Flucht, Gefangenschaft und Krankheit oder das Leben als benachteiligter und beschimpfter "Verräter" in der eigenen Heimat nach Ende des Krieges. "Wir haben natürlich in der Familie darüber gesprochen", erzählte die Zeitzeugin Nina Rudakova auf der anschließend von Joachim Jauer moderierten Podiumsdiskussion. "Meiner Tochter habe ich davon erzählt. Und letztlich hat sie mich ermutigt: Warum schreibst du nicht deine Erlebnisse auf. Das sei wichtig, damit nichts verloren gehe, sagte sie zu mir." Das Niederschreiben all dieser schrecklichen Erinnerungen habe ihr und allen andern geholfen, das Erlebte zu verarbeiten, so Nina Rudakova.
"Die Träume, in denen das Vergangene wieder emporsteigt, werden weniger", erzählte so auch Michail Sacharow, der als zweiter Zeitzeuge eigens zur Buchvorstellung nach Berlin gekommen war. Sacharow, Architekturprofessor aus Sankt Petersburg, ist mit seiner Biographie kein Normalfall. Er konnte die weiterführende Schule besuchen, konnte schließlich sogar Geologie studieren und später zur Architektur wechseln. 98 Prozent der ehemaligen minderjährigen Häftlinge besuchten nach ihrer Befreiung in der Sowjetunion nur für vier bis sieben Jahre die Schule. Sie wurden bei der Arbeitssuche benachteiligt, zudem galt ein 100 km-Radius um ihre ehemaligen Heimatorte, innerhalb der sie nicht wohnen durften, ergänzte der Historiker Prof. Dr. Wolfgang Wippermann.
Erst 2000 erschienen die vorliegenden Berichte in russischer Sprache. Warum so spät? "In der Sowjetunion war diese Gruppe von Kriegsgefangenen lange als Verräter stigmatisiert. Auch die DDR übernahm zunächst diese Haltung." Letztlich sei es aber auch ein Versäumnis der übrigen Historiker, sich erst jetzt dieser Opfergruppe zuzuwenden, so Prof. Wippermann.
So ist es einem Besuch im Jahr 2003 zu verdanken, dass dieses Erlebnisse nun auch in deutscher Sprache vorliegen. Damals kamen ehemalige Kinder von Zwangsarbeitern, zwölf Frauen und drei Männer aus St. Petersburg und aus Karelien, als Gäste nach Berlin. Schnell entstand der Wunsch, die Erlebnisse auch auf Deutsch zu veröffentlichen und damit der jungen Generation in Deutschland nahezubringen. "Die Caritas-Konferenzen Berlin haben diesen Wunsch sehr gern unterstützt", so Angelika Westphal. Durch viel ehrenamtliches Engagement in den zurückliegenden Jahren wurde so die Übersetzung und die Herausgabe der Erinnerungen möglich gemacht. Diese Leistung stelle der Ehrenamtskultur der CKD ein beeindruckendes Zeugnis aus, sagte würdigend deren Vorsitzende Helga Herting.
Jugendliche dokumentieren die Veranstaltung für Magdalena WebTV
Großes mediales Interesse, darunter das RBB-Fernsehen, begleitete die Veranstaltung. Auch eine Gruppe Jugendlicher aus dem Magdalena Caritas Kinder- und Jugendzentrum dokumentierte die Veranstaltung mit Ton- und Video-Aufnahmen für das Magdalena WebTV. Nach der offiziellen Präsentation führten Sie Interviews mit den anwesenden Zeitzeugen durch. "Im Anschluss sollen die entstandenen Videoclips und Tonaufnahmen im Magdalena übersetzt und mit einer deutschen Tonspur unterlegt werden. So liegen nach Ende der Arbeiten zu der Veranstaltung Übersetzungen der Gespräche zwischen den Jugendlichen und Interviewten vor", erzählte Tobias Postluka, der als Sozialarbeiter im Magdalena für das Projekt verantwortlich ist.
Im Vorfeld der Buchpräsentation hatten die Jugendlichen im Magdalena-Zentrum großes Interesse an der Thematik gezeigt und sich auf die Veranstaltung vorbereitet. Alle Kinder und Jugendlichen kamen aus dem Stadtteil Frankfurter-Allee-Süd in Berlin Lichtenberg und hatten selbst eine sehr verschiedenen Migrationshintergrund, waren russischer, thailändischer oder kurdischer Herkunft. Bei der Vorbereitung traten ihre eigenen Migrationserlebnisse in das Blickfeld aber auch die Kenntnis über ihre persönliche Familiengeschichte. Zum Teil erstaunlich stark war diese mit den Ereignissen am Ende des Zweiten Weltkriegs verwoben, sowohl auf Täter- wie auch auf Opferseite. "Ziel der Arbeit an den Interviews ist es nun, zusätzliches Material zur Thematik des Buches zu erstellen, das anderen Kindern und Jugendlichen, insbesondere auch Schülerinnen und Schülern, weitere lebensnahe Einblicke ermöglichen soll", so Postulka.
"Wenn so eine Veranstaltung noch einmal sein sollte, bitte Bescheid sagen. Wir kommen gern wieder mit und machen Aufnahmen," sagten die jungen Reporter auf dem Rückweg. Sie hätten viel gelernt dabei. Mit der Dokumentation durch das Caritas Kinder- und Jugendzentrum Magdalena kamen die Jugendlichen dabei unbewusst einem Wunsch auch der russischen Gäste nach. "Möge die Veröffentlichung gerade unter jungen Menschen dazu beitragen, das Erlebte wach zu halten, damit sich Vergleichbares nie wiederholen könne", so Nina Rudakova abschließend. Gerade Jüngere könnten so erfahren, was es bedeute, dass Frieden herrsche.
Geraubte Kindheit. Russische Jugendliche in deutschen Arbeitslagern.
Herausgegeben von Angelika Westphal und Ruth Keseberg-Alt. ISBN 978-3-9811977-7-8. Preis 7,- Euro. Der Erlös aus dem Verkauf des Buches sowie Spenden fließen an die "Sankt Petersburger gesellschaftliche Organisation minderjähriger Gefangener von faschistischen Konzentrationslagern Wassiljewsker Insel". Spendenkonto: 6002704089, BLZ 37060193, Pax-Bank e.G. Kennwort: Geraubte Kindheit