"Es ist normal, keine Wohnung zu haben"
Nicht nur sozial schwache Menschen, auch Menschen aus der so genannten mittleren Einkommensschicht rutschen mittlerweile schnell in prekäre Wohnsituationen. Auch wenn der Senat dazu keine offizielle Statistik führt, sei dies nicht nur eine gefühlte Wahrnehmung, sondern zumindest für die zentrale Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot belegbar, sagt deren Leiterin Elfriede Brüning und reicht Auszüge aus dem Sachbericht 2016 über den Tisch.
Die Sozialarbeiterin sitzt in ihrem hell gestrichenem Büro, durch das leicht geöffnete Fenster dringt ein wenig Sommerwind und das Geräusch der stark befahrenen Straße. Sie berichtet von Fällen und Zahlen und doch wird deutlich, dass sich hinter den grünen und gelben Balken menschliche Schicksale verbergen.
Die Notunterkünfte der Stadt seien hoffnungslos überfüllt und für Familien gäbe es keine geeigneten Einrichtungen, weshalb die Jugendämter in ihrer Verzweiflung schonmal eine Familie auseinanderreißen und das Kind vorübergehend beim Kindernotdienst unterbringen würden, erklärt Brüning.
Sie erinnert sich auch an eine junge Frau, die seit einem Jahr für ihre vierköpfige Familie eine Wohnung sucht, zur Zeit zu neunt in einer Vier-Zimmer-Wohnung bei Verwandten lebt. "Sie war höllisch verzweifelt, hatte alle nötigen Papiere, der Mann ein geregeltes Einkommen, keine Schulden, keine Suchtprobleme - eigentlich die besten Voraussetzungen, um eine Wohnung zu bekommen."
Ein anderes Mal stand ein Mann mittleren Alters in den Beratungsräumen der Moabiter Levetzowstraße. Auch er mit einem geregelten Einkommen. Seine komfortable Altbauwohnung hatte er nach dem Tod seiner Frau gekündigt, weil er die Erinnerung an sie darin nicht ausgehalten hat. Naiv bei der aktuellen Wohnungsmarktlage, möchte man meinen. Doch in so einer Krisen-Situation wie dem Verlust eines geliebten Menschen ist rationales Handeln nicht selbstverständlich, gibt Elfriede Brüning zu bedenken. "Der Fall hat mich sehr berührt und führt vor Augen, wie schnell jeder in eine prekäre Lage geraten kann." Die Zeit der verwahrlosten "Klischee-Wohnungslosen" sei vorbei. "Es ist mittlerweile normal, keine Wohnung zu haben oder zu finden", beschreibt die Sozialarbeiterin die aktuelle Lage. So traurig das sei, vermindere es immerhin die Hemmschwelle darüber zu reden und offizielle Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen.
Auch wenn es Elfriede Brüning und ihrem Team immer schwerer fällt, neuen Wohnraum zu vermitteln, ist ihre Arbeit nicht sinnlos: "Die Leute sind froh, über den Austausch mit uns, dass Ihnen jemand zuhört, Mut macht und einfach mal den Tipp gibt, sich eine Auszeit von dem psychischen Stress des Wohnungssuchens zu nehmen. Dafür bedanken die sich bei uns." Das Leben in einer prekären Wohnsituation lasse auch einen psychisch gefestigten Menschen irgendwann resignieren und depressiv werden. "Wir arbeiten zudem mit einem ganzheitlichen Ansatz", erklärt die Sozialarbeiterin. So gehe es nicht nur darum, neuen Wohnraum zu finden, sondern gegebenenfalls an weitere Beratungsstellen innerhalb des Hilfsnetzwerkes der Caritas zu vermitteln. "Das motiviert mich persönlich auch jeden Tag in meiner Arbeit, dass wir in der Wohnungslosenberatung den Menschen im Ganzen sehen und helfen können", erklärt Elfriede Brüning, warum sie trotz aller frustrierender Schicksalsgeschichten nicht ihr sympathisches Lachen verloren hat.
30 Mitarbeitende der Ambulanten Wohnungslosenhilfe haben an sieben Standorten der Caritas in Berlin im vergangenen Jahr 400 wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen betreut und begleitet. Auch wenn die Suche und Vermittlung immer schwerer wird: Mehr als 75 Prozent der Klienten waren am Ende des Jahres in einer eigenen Wohnung. Ein Erfolg, der deutlich über dem Durchschnitt liegt, betont der Caritas Fachreferent für Wohnungslosenhilfe, Kai-Gerrit Venske. "Erfolgsfaktoren sind erfahrene, motivierte Mitarbeiter und die breite und effektive Vernetzung innerhalb der Caritas-Hilfen."
In seiner Gremien- und Lobbyarbeit stellt er fest, dass das Thema weit oben auf der politischen Agenda steht. Auch weil mittlerweile der Mittelstand stark davon betroffen ist. Er kritisiert, dass noch immer nicht die richtigen Instrumente gefunden wurden, um politisch gegenzusteuern und bezahlbaren Wohnraum zu sichern.
"Das Hilfesystem braucht mehr Geld und muss besser aufgestellt sein. Es bedarf außerdem einer Strategie, die mit Maßnahmen und Geld hinterlegt ist." Dafür müssten alle an einen Tisch: Bauen, Wohnen und Soziales, fordert Kai-Gerrit Venske. "Das kann die Sozialsenatorin nicht allein stemmen."
In Berlin-Marzahn sitzt im Erdgeschoss eines Gesundheitszentrums Susen Molter in ihrem Büro. Auch sie berät Menschen, die in Wohnungsnot geraten sind. Die Erfahrungen der Leiterin der ambulanten Wohnungslosenhilfe Marzahn sind ähnlich zu denen der Kollegin in Moabit und doch ganz anders. Was auch im unterschiedlichen Ansatz begründet ist. Das "Kerngeschäft" konzentriert sich auf das Beraten von Klienten im betreuten Einzelwohnen. Sucht- und Schuldenproblematiken stehen hier durchaus auf der Tagesordnung, genauso wie fehlende Strukturen und Perspektiven. Die Gründe für das Geraten in Schieflage ähneln dagegen: Krisen wie Trennung, Krankheit oder Tod eines Nahestehenden. Auch das Problem, eine neue Wohnung zu finden, kennt Susen Molter. "Vor zehn Jahren war das in Marzahn überhaupt kein Problem. Inzwischen hat sich das dramatisch geändert", berichtet die Sozialpädagogin. Die Entwicklung hat sie zu der Idee eines Präventions-Projektes gebracht, das in Form einer Kooperation mit der Wohnungsbaugenossenschaft Wuhletal eG vor sieben Monaten begonnen hat. Die Schuld für die prekäre Situation am Wohnungsmarkt nur bei den vermeintlich gierigen Vermietern zu suchen ist nicht ihr Ding. "Auch das sind Menschen. Glauben Sie mir: Eine Wohnung lässt niemand gern so einfach räumen. Abgesehen von Ärger und Kosten - denen ist schon bewusst, was das für einen Menschen bedeutet. So viel Mitgefühl unterstelle ich einfach mal." So hätten auch Vermieter ein Interesse, dass ihren Mietern rechtzeitig aus einer Schieflage geholfen wird, nur seien sie damit oft schlichtweg überfordert. "Das sind ausgebildete Immobilien- oder Verwaltungskaufleute und keine Sozialarbeiter. Aber genau deren Fachwissen ist nötig in diesen Fällen", gibt Susen Molter zu bedenken.
Das Schicksal einer Klientin, das Susen Molter selbst wie sie sagt, in dieser Komplexität und Traurigkeit noch nicht erlebt hat, war der Auslöser für das Kooperationsprojekt. Wie so häufig war es der Tod des Partners, der die Wohnung hat zu groß werden lassen und die Frau in ihrer Trauer für über ein Jahr gelähmt hat. Sie selbst beschrieb es Susen Molter als eine Zeit des "Komas". Es war ihr unmöglich, die Post zu öffnen, sich mit Ämtern, geschweige denn ihrem eigenen Leben auseinanderzusetzen. Es gab ein Kind aus einer früheren Beziehung, für das sie Unterhalt-Verpflichtungen hatte, denen sie aber nicht mehr nachkam. Das Konto wurde gepfändet, somit blieben die Mietzahlungen aus - wodurch sie dem Vermieter, der Wohnungsbaugenossenschaft, auffiel. Dort versuchte man ihr durchaus entgegenzukommen. Ohne Erfolg. Mit der Räumungsklage in der Hand kam die Frau schließlich zu Susen Molter. "Das war ihr alles unendlich unangenehm", erinnert sich die Sozialarbeiterin. "Uns blieb nicht viel Zeit und die Situation war sehr kompliziert." Doch der Vermieter zeigte sich kooperativ und verständnisvoll, zog die Räumungsklage zurück, bot sogar einen Wohnungstausch an. "Ich habe damals gemerkt: Wohnungsbaugenossenschaften sehen den Menschen, weniger die Zahlen - so wie wir als Caritas. Das klingt nach einem Partner."
Seit sieben Monaten vermittelt nun eine Caritas-Mitarbeiterin als Sprachrohr zwischen Wohnungsbaugenossenschaft und Mieter bei "auffälligen Mietverhältnissen" wie es im Fachjargon heißt. Dahinter verbirgt sich meistens ein Schicksal von Vereinsamung, das nicht selten eine Verwahrlosung nach sich zieht. So wie bei der schwerkranken Frau: Geistig fit und finanziell in einer gesicherten Situation, wusste sie sich trotzdem nicht die geeignete Hilfe zu holen, die sie so dringend benötigt hätte. Voller Scham ließ sie die von der Wohnungsbaugenossenschaft geschickte Sozialarbeiterin in ihre verwahrloste Wohnung. Die Fachfrau erkannte schnell das Problem, vermittelte an den Pflegedienst der Caritas, der wiederum der Frau zu einer würdigen Wohn- und Lebenssituation verhalf. "Wir nutzen die Kompetenzen der gesamten Caritas-Familie", erklärt Susen Molter die Nachhaltigkeit des Beratungs-Angebotes. Künftig, so hofft sie, sollen Hinweise für hilfsbedürftige Mieter nicht nur von der Wohnungsbaugenossenschaft, sondern auch von besorgten Nachbarn kommen. "Je früher wir helfen können, desto besser."
Text: Christina Bustorf