Wichtiger denn je: Suchthilfe in Pandemiezeiten
Seit März 2020 beeinträchtigt die Coronapandemie alle Lebens- und Arbeitsbereiche massiv. Auch die Suchthilfe und die Sucht-Selbsthilfe sind davon stark betroffen. Es gibt eine nach wie vor hohe und teilweise noch gestiegene Nachfrage nach Hilfeangeboten. Diese Nachfrage steht nun erschwerten Bedingungen der Hilfeerbringung gegenüber und macht es erforderlich, die Angebote anzupassen. Auch nehmen der Alkohol- und Tabakkonsum1 sowie der problematische Internetgebrauch2 zu. Die Verschärfung von bestehenden Suchtproblematiken ist sehr wahrscheinlich. Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen leiden darüber hinaus häufig unter weiteren schwerwiegenden chronischen Erkrankungen und zählen daher zu den Risikogruppen für Covid-19. Suchthilfeangebote als systemrelevant anzuerkennen, diese während der Pandemie aufrechtzuerhalten sowie in erforderlichem Maß auszustatten, ist daher dringend notwendig.3
Suchtberatungsstellen sind eine zentrale Anlaufstelle für suchtkranke Menschen und ihre Angehörigen. Der Deutsche Caritasverband (DCV) hat daher im Sommer 2021 seine Beratungsstellen online befragt. Ziel war es, einen Überblick darüber zu erhalten, wie die Hilfeangebote gestaltet sind und wie sie während der Pandemie in Anspruch genommen werden. Auch wollte der DCV die erwarteten längerfristigen Folgen und Handlungsbedarfe erfahren.
An der Erhebung haben sich bundesweit 103 Einrichtungen (von circa 300) aus 26 Diözesen beteiligt. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass sich die Einrichtungen in ihren Angeboten, von Prävention über niedrigschwellige Angebote bis Behandlung, unterscheiden - und damit auch die erlebten Veränderungen.
Suchtberatung ist auch in der Pandemie erreichbar
Die Untersuchung zeigt, dass die meisten Suchtberatungsstellen der Caritas auch in Pandemiezeiten ohne Unterbrechung für Hilfesuchende erreichbar waren, zu einem großen Teil auch durchgehend mit Face-to-Face-Angeboten - unter Berücksichtigung der geltenden Schutzverordnungen und damit mit erhöhtem Aufwand verbunden. Die Einrichtungen haben quasi über Nacht ihre Angebote modifiziert, um trotz Pandemie möglichst viele Betroffene und Angehörige erreichen zu können. Telefon- und digitale Angebote wie Mail- und Videoberatung wurden ausgeweitet. Auch Face-to-Face-Beratungen wurden angepasst: So haben die Einrichtungen vermehrt Walk-and-Talk-Kontakte vorgehalten, Gruppen durch Einzeltreffen ersetzt oder Gruppen geteilt, um die Abstandsregeln einzuhalten.
Die Klient:innen haben die angepassten Angebote gut angenommen; die Beratenden haben diese als positiv und mit neuen Chancen verbunden erlebt. Zum Beispiel ist es für die Klient:innen durch die vermehrten Telefon- und digitalen Angebote leichter, Kontakt aufzunehmen. Allerdings wurden auch negative Effekte identifiziert, wie beispielsweise ein erschwerter Beziehungsaufbau und weniger Folgekontakte. Teilweise hat sich das Erleben mit der Zeit auch verändert - zunächst wurden die Telefon- und digitalen Möglichkeiten positiv empfunden, mit dem Andauern der Pandemie eher negativ. Bei den Klient:innen haben die Befragten zunehmend wieder den Wunsch nach persönlichen Kontakten wahrgenommen.
Mehr Angehörige und junge Menschen angesprochen
Die Hälfte der Einrichtungen erreichte mehr Angehörige als vor der Pandemie, teilweise wurden auch mehr jüngere Klient:innen und Familien oder Eltern angesprochen. Es zeigte sich, dass vor allem der Alkoholkonsum und pathologischer Internetgebrauch während der Pandemie zugenommen haben. Darüber hinaus ist die Zahl der Rückfälle angestiegen. In der verbandlichen Selbsthilfe führte die Pandemie zu Mitgliederverlust und zum Auflösen ganzer Gruppen.
Als Bedarfe haben die Einrichtungen genannt: die technische Ausstattung nachrüsten und deren Finanzierung verbessern, die Mitarbeitenden in "Blended Counseling" beziehungsweise verschiedenen digitalen Beratungsformaten schulen, die technische Ausstattung der Klient:innen verbessern und die Akzeptanz und digitalen Kompetenzen von Klient:innen fördern.
Geringe Ressourcen bei steigendem Bedarf
◆ Die Erhebung belegt die hohe Bedeutung und Systemrelevanz von Suchtberatung und einen durch die Pandemie noch gestiegenen Beratungs- und Behandlungsbedarf sowie die Notwendigkeit entsprechender Angebote; der volle Umfang der Pandemiefolgen wird jedoch wohl erst verzögert sichtbar werden.
◆ Für die in der Erhebung benannten Zielgruppen, bei denen ein Anstieg zu verzeichnen war - Angehörige, jüngere Betroffene, Familien, Betroffene mit pathologischem Internetgebrauch und Glücksspielsucht - müssen Angebote vorgehalten und gegebenenfalls ausgebaut werden, neben insgesamt mehr Präventions- und Beratungsmöglichkeiten.
◆ Indem sich die Einrichtungen den Umständen angepasst haben, konnten sie die Zugangswege zu Hilfe erweitern und damit die Niedrigschwelligkeit ihrer Angebote verbessern. Perspektivisch gesehen können Betroffene und teilweise neue Zielgruppen so besser und früher erreicht werden.
◆ Positive Auswirkungen der Pandemie, wie beispielsweise vermehrte Walk-and-Talk-Optionen und die Weiterentwicklung digitaler Angebote, sollten aufrechterhalten und ausgebaut werden. Zukünftig sollte es einen gleichrangigen Zugang zu Hilfe per Telefon, online und persönlich geben.
◆ Online-Beratung/"Blended Counseling" sollte weiter ausgebaut werden, ebenso die Öffentlichkeitsarbeit. Ziel sollte sein, "Blended Counseling" in allen Einrichtungen umzusetzen, um gezielt die Vorteile von Face-to-Face- und digitalen Angeboten zu kombinieren und im Sinne der Klient:innen zu nutzen. Der DCV hat ein Papier zu zentralen Aspekten eines Rahmenkonzepts für "Blended Counseling" in der Suchtberatung inklusive Mustervorlage sowie eine Handreichung für die Umsetzung in der Praxis entwickelt und schafft damit die inhaltlichen Grundlagen dafür.4 Darüber hinaus müssen Finanzierung und Abrechnungsmöglichkeiten für "Blended Counseling" geklärt werden.
◆ Um digitale Angebote gut umsetzen zu können, besteht an vielen Stellen Bedarf an technischer Ausrüstung und Schulungen - und deren Finanzierung.
◆ In Bezug auf die Unterstützung der Selbsthilfe gilt es, die Erfahrungen aus der Pandemie sowie erlebte Bedarfe von Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe gemeinsam in den Blick zu nehmen. Dabei sollten die bestehenden Kooperationen weiterentwickelt, ausgeweitet und mit neuen Impulsen gefördert werden.
Für die wichtigen Angebote von Suchtberatungsstellen besteht dringend und unabhängig von der Pandemie Bedarf an ausreichender Finanzierung und personellen Ressourcen. Dem durch Corona noch erhöhten Bedarf an Hilfeangeboten steht jedoch eine seit Jahren nicht sichere und nicht auskömmliche Finanzierung gegenüber. Suchtberatung benötigt nun mehr denn je eine gesicherte finanzielle Basis, auf die die Verbände, gemeinsam mit der Politik, hinwirken müssen.5
Anmerkungen
1. Siehe www.aerzteblatt.de, Kurzlink: https://bit.ly/3LncD3d
2. Siehe www.aerzteblatt.de, Kurzlink: https://bit.ly/3Nu9ws8
3. Siehe Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, www.dhs.de, Kurzlink: https://bit.ly/3MkVUyd
4. Die drei Papiere sind auf www.caritas.de zum Download verfügbar; Kurzlink: https://bit.ly/3EpBXTS
5. Die Ergebnisse der Erhebung können über Daniela Ruf, Referat Teilhabe und Gesundheit (DCV), bezogen werden.
Langzeitarbeitslose nicht abhängen
Dauerbaustelle SGB II
Regelbedarfsermittlung: Neustart erforderlich
Mehr Partnerschaftlichkeit wagen
Klimaschutz statt Armut
Ein Plus fürs Arbeitsklima
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