Freizügigkeit für Bulgarien und Rumänien: Die Bilanz ist überwiegend positiv
Vor 15 Jahren wurden Bulgarien und Rumänien nach langen Verhandlungen Mitglieder der Europäischen Union. Das war, wie die gesamte Osterweiterung, nicht unumstritten. Es traten damals im Vergleich zum EU-Durchschnitt eher arme Staaten bei. Seither haben, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, alle deutlich aufgeholt, teilweise sogar "alte" Mitgliedstaaten überholt. Bulgarien ist aber noch immer das Schlusslicht. Vorbehalte gab es vor allem bezüglich möglicher Belastungen der Sozialsysteme und des Arbeitsmarktes. Um diesen vor Konkurrenz zu schützen, wurden die Beitritte jeweils durch eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für bis zu sieben Jahre flankiert, die in Deutschland auch weitestgehend genutzt wurde. Für die im Jahr 2004 beigetretenen sogenannten EU-8 (Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowakei, Slowenien) galten die Beschränkungen bis Mai 2011, für die im Jahr 2007 beigetretenen EU-2 (Bulgarien und Rumänien) bis 31. Dezember 2013. Nur für das 2013 beigetretene Kroatien wurde die Frist nicht voll ausgeschöpft. Die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit galt schon zum 1. Juli 2015. Weitgehend unbemerkt und ohne Beschränkungen traten im Jahr 2004 Zypern und Malta der EU bei.
Praktisch keine Beschränkungen gab es bei den Beitritten jeweils für die Freizügigkeit der Selbstständigen und die Dienstleistungsfreiheit. Und es wurde teilweise ausgeblendet, dass nicht nur Arbeitskräfte Freizügigkeit in der EU genießen, sondern dieses Bürgerrecht seit 1992 allen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates zusteht - egal ob sie arbeiten (wollen) oder nicht.1 Die neuen EU-Bürger:innen konnten sich also schon lange vor der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit frei in der EU bewegen und selbstständig erwerbstätig sein. Die Aufnahme einer unselbstständigen Beschäftigung war beispielweise in Deutschland möglich, wenn keine einheimische Arbeitskraft zur Verfügung stand oder es sich um Saisonarbeit (die ab 2012 genehmigungsfrei war) handelte. Bis zum Ende der jeweiligen Beschränkungen wurden für EU-8-Arbeitskräfte etwa 200.000, für die EU-2 knapp 120.000 Arbeitsgenehmigungen erteilt.2
Zuwanderung nach Deutschland hat zugenommen
Nach den Jahren 2004 beziehungsweise 2007 nahm die Zuwanderung vor allem aus Polen, Bulgarien und Rumänien tatsächlich zu. Zu einem Hauptzielland wurde Deutschland aber erst ab dem Jahr 2008. Infolge der Banken- und Eurokrise fielen Spanien und Italien als Zielländer insbesondere von Staatsangehörigen Bulgariens und Rumäniens weg. So stieg deren Zahl in Deutschland seit 2010 deutlich an und wurde teilweise als sogenannte Armutszuwanderung stark problematisiert.
EU-Bürger:innen stellten im letzten Jahrzehnt immer die größte Zuwanderungsgruppe. Ausnahme war das Jahr 2015, in dem circa 800.000 Schutzsuchende vornehmlich aus Syrien kamen. Gleichzeitig wurde mit über 685.000 Personen auch bei der EU-Zuwanderung der Gipfel erreicht. In den letzten zwei Jahren migrierten jeweils "nur" knapp eine halbe Million Staatsangehörige anderer EU-Staaten nach Deutschland.
Hinsichtlich der Nationalitäten hat Rumänien Polen im Jahr 2014 überholt und hält seither den Spitzenplatz. Da die Wanderungsbewegungen insbesondere von Staatsangehörigen Polens, Bulgariens und Rumäniens durch sehr hohe Fluktuation geprägt sind, lag der Wanderungssaldo immer deutlich niedriger.
In der öffentlichen Diskussion wird oft übersehen, dass weniger die Arbeitnehmerfreizügigkeit das Einfallstor für Lohn- und Sozialdumping darstellt, sondern die Dienstleistungsfreiheit. Damit ist es möglich, Arbeitskräfte aus einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen zu entsenden. Dort müssen dann nur Mindeststandards eingehalten werden. Dazu gehört auch der Mindestlohn, den es in Deutschland aber erst seit 2015 gibt. Durch die Verlagerung der Beschäftigungsverhältnisse in Werkverträge und Subunternehmerketten wie beispielsweise auf dem Bau oder in der Fleischwirtschaft gelingt es immer wieder, selbst die Mindeststandards zu umgehen. Die entsandten Arbeitskräfte arbeiten zwar bei einem deutschen Unternehmen, sind aber dort nicht angestellt - was sie oft gar nicht wissen. Sie genießen hier weder den Schutz durch die Sozialversicherung noch Arbeitnehmerrechte.
Auch in der häuslichen Betreuung von Pflegebedürftigen, in der fast ausschließlich Frauen aus (süd-)östlichen EU-Staaten und zunehmend aus den nicht zur EU gehörenden Staaten Ukraine, Moldawien und Georgien tätig sind, kommt es zu Rechtsverstößen. Das Einschalten von Agenturen führt teilweise dazu, dass die Vertragsbedingungen verschleiert werden.3 Das Vorhaben der Bundesregierung, den Schutz bei grenzüberschreitender Entsendung zu verbessern und die Beschäftigten über ihre Rechte zu informieren4, sollte daher dringend umgesetzt werden.
Manche EU-Bürger:innen leben in prekären Verhältnissen
Auch wenn die Freizügigkeit für viele zu den positiven Errungenschaften der EU zählt, darf nicht verhehlt werden, dass manche EU-Bürger:innen in Deutschland scheitern. Sie finden keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und leben in prekären Verhältnissen, teilweise in Obdachlosigkeit. Manche suchen Hilfe bei der Caritas. Die Beratungsstellen berichten von fehlender Absicherung bei Krankheit sowie bei Schwangerschaft und Geburt, von Problemen durch Leistungsausschlüsse bei der Grundsicherung und auch davon, dass bestehende Ansprüche auf öffentliche Leistungen aus Unkenntnis oder weil die Betroffenen damit überfordert sind, nicht wahrgenommen werden. Die eingeschränkten Zugänge zu Jobcentern und Sozialämtern infolge der Coronapandemie haben ihr Übriges dazu getan, dass diese Menschen nur mit Unterstützung die notwendigen Hilfen erhalten. Es sollten daher dringend (wie im Koalitionsvertrag verabredet5) die Möglichkeiten zur Durchsetzung von Rechten verbessert werden. Um dies zu erreichen, müssen unter anderem die Unterstützungsstrukturen ausgebaut werden.
Trotz der beschriebenen Probleme hat die Mobilität von Staatsangehörigen der EU-8 und der EU-2 dem Wirtschaftsstandort und dem Wohlstand in Deutschland insgesamt genutzt.6 Der Anteil der Akademiker:innen und die Beschäftigungsquote (ohne Minijobs) ist bei ihnen ähnlich hoch wie bei der Gesamtbevölkerung in Deutschland. Sie tragen dazu bei, den Arbeitskräftemangel zu mindern. Dabei liegen Schwerpunkte im verarbeitenden Gewerbe, im Baugewerbe und bei Verkehr und Lagerwirtschaft. Auch der Gesundheits- und Pflegesektor profitiert. Allerdings gehören insbesondere Arbeitskräfte aus Bulgarien oder Rumänien überdurchschnittlich oft zu den "working poor", die in Landwirtschaft, Fleischindustrie, Handel, Logistik oder bei Lieferdiensten einen Knochenjob bestenfalls zum Mindestlohn machen. Entsprechend ist die Zahl der Aufstocker:innen - also derjenigen, die von ihrem Arbeitseinkommen nicht leben können - bei den Hartz-IV-Beziehenden mit einer bulgarischen oder rumänischen Staatsangehörigkeit überdurchschnittlich hoch. Die Arbeitslosenquote ist bei Staatangehörigen Polens und Rumäniens nur etwas höher als im Bevölkerungsschnitt, bei Bulgar:innen liegt sie allerdings deutlich darüber. Insgesamt findet also wirklich eine Einwanderung in die Sozialsysteme statt - aber von Arbeitskräften, die in die Sozialversicherung einzahlen und sie damit stabilisieren. Ein nennenswerter Missbrauch des Sozialsystems durch mobile EU-Bürger:innen lässt sich hingegen nicht durch belastbare Zahlen untermauern.
Quellen im Internet
Migration in Zahlen
◆ www.bamf.de - Freizügigkeitsmonitoring; Kurzlink: https://bit.ly/3Mx9Jtb
◆ www.iab.de - Zuwanderungsmonitor März 2022; Kurzlink: https://bit.ly/3xSpIOB
◆ https://statistik.arbeitsagentur.de - Migrationsmonitor (Monatszahlen), Februar 2022
◆ https://statistik.arbeitsagentur.de (Pfad: Statistiken > Themen im Fokus > Migration > Personen nach Staatsangehörigkeiten > Beschäftigte nach Staatsangehörigkeiten - Deutschland, Länder und Kreise (Quartalszahlen)
◆ www.destatis.de - Datenreport 2021; Kurzlink: https://bit.ly/3vl8tnk
◆ https://ec.europa.eu/eurostat - BIP pro Kopf; Kurzlink: https://bit.ly/3vlgsRn
Anmerkungen
1. Vgl. Tießler-Marenda, E.: Freizügigkeitsrecht als Errungenschaft. In: neue caritas Heft 1/2020,
S. 9 ff.
2. Hassel, A.; Wagner, B.: Arbeitsmigration oder Auswanderung? In: WSI Mitteilungen 6/2017,
S. 415.
3. Zur Live-in-Care: Tießler-Marenda, E: Zu Hause gut versorgt, aber legal. In: neue caritas Heft 10/2021, S. 31 ff.
4. Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), Zeilen 2324 ff.
5. Ebd., Zeilen 4620 ff.
6. Vgl. Mediendienst Integration, Kurzlink https://bit.ly/3Kk9rob
Langzeitarbeitslose nicht abhängen
Dauerbaustelle SGB II
Regelbedarfsermittlung: Neustart erforderlich
Mehr Partnerschaftlichkeit wagen
Klimaschutz statt Armut
Ein Plus fürs Arbeitsklima
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