Regelbedarfsermittlung: Neustart erforderlich
Mit den sogenannten Regelbedarfen sollen die Mittel bereitgestellt werden, die die physische Existenz sichern und ein Mindestmaß an zwischenmenschlichen Beziehungen und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen.1 Dabei sind beide existenzielle Bedarfsarten relativ zum gesellschaftlichen Umfeld zu definieren, um Ausgrenzung zu verhindern. Dementsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht die Ausrichtung am Entwicklungsstand des Gemeinwesens und an den bestehenden Lebensbedingungen gefordert.2 Angesichts der Reformvorhaben der Bundesregierung - Bürgergeld und Kindergrundsicherung3 - rücken Fragen nach einer sachgerechten Regelbedarfsermittlung mit dem sogenannten Statistikmodell verstärkt in den Fokus.
Nach der Grundidee der statistischen Methode gelten die durchschnittlichen Konsumausgaben von Einkommensgruppen in "bescheidenen" Verhältnissen als Indikator für das soziokulturelle Existenzminimum. Es wird also kein Warenkorb, sondern ein Mindestbudget ermittelt. Dabei sollten sich Abweichungen individueller Bedarfe vom Durchschnitt, die bei einzelnen Ausgabearten teils nach oben und teils nach unten gehen, insgesamt saldieren. Infolge dieser modellimmanenten Annahme des internen Ausgleichs eignet sich das Statistikmodell nur für regelmäßig anfallende Lebenshaltungskosten, die keinen systematischen Preisunterschieden unterliegen. Denn selten zu tragenden Anschaffungskosten und individuell beziehungsweise regional stark variierenden Kosten stehen keine Minderbedarfe in anderen Bereichen gegenüber - sie sind im Kontext der Existenzsicherung nicht pauschalierbar. Für die Reformprojekte Kindergrundsicherung und Bürgergeld als vollständig pauschalisierte Leistungen sind Sonder- und seltene Bedarfe aber wiederum einzurechnen - wie bereits bisher für das steuerlich freizustellende Existenzminimum (Kinder- und Grundfreibetrag).
Voraussetzung für das Statistikmodell sind repräsentative Daten zu Einkommen und Ausgaben, die mit den Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS) in fünfjährigem Turnus erhoben werden. Wesentlich ist zudem eine sorgfältige Auswahl der Referenzeinkommensbereiche. Dies entspricht der vom Bundesverfassungsgericht formulierten Prämisse, "dass … das Ausgabeverhalten unterer Einkommensgruppen … zu erkennen gibt, welche Aufwendungen für das menschenwürdige Existenzminimum erforderlich sind"4.
Systematik ist nicht ausbalanciert
Die Bestimmung eines soziokulturellen Existenzminimums ist mit der Herausforderung verbunden, normative Aspekte - Empirie kann politische Entscheidungen nicht ersetzen - und methodische Anforderungen gleichermaßen zu berücksichtigen. Im derzeitigen System der Regelbedarfsermittlung sind beide Bereiche allerdings nicht ausbalanciert. Der politische Spielraum ist weit ausgedehnt, methodische Gesichtspunkte werden kaum beachtet. Denn der Gesetzgeber greift zweifach in das Berechnungsverfahren ein und übergeht dabei weitgehend die Voraussetzungen für die Eignung des Statistikmodells:
◆ Zunächst wird - nachdem die Grundsicherungsbezieher:innen ohne Erwerbseinkommen ausgeklammert wurden - auf politischer Ebene bestimmt, welche unteren Einkommensbereiche maßgeblich sein sollen. Ob in den Referenzgruppen selbst Mangel vorliegt oder Teilhabe möglich ist, bleibt unbeachtet. Aus der Gruppe der Alleinlebenden zur Ermittlung von Erwachsenenbedarfen werden freihändig die untersten 15 Prozent der nach dem Einkommen geordneten Haushalte, von den Paaren mit einem Kind zur Ermittlung von Kindesbedarfen die untersten 20 Prozent gewählt. Zum einen sind die unterschiedlichen Quantile methodisch nicht zu rechtfertigen. Zum anderen ist die Ableitung der Bedarfe von zusammenlebenden Eltern und Kindern aus unterschiedlichen Referenzhaushalten nicht überzeugend.
◆ Für die vorgegebenen Referenzgruppen berechnet das Statistische Bundesamt durchschnittliche Ausgaben, und zwar differenziert nach den mit der EVS im Detail erhobenen Konsumpositionen.
◆ Schließlich wird zur politischen Ebene zurückgekehrt, wo weitere normative Setzungen erfolgen. Zahlreiche Ausgaben werden als "nicht existenzsichernd" definiert und von der Berechnung der Regelbedarfe ausgenommen. Letztlich wird mit diesen Streichungen wie aus einem Warenkorb die gewählte Methode verlassen, so dass die dem Statistikmodell immanente Annahme des internen Ausgleichs nicht mehr haltbar ist. Die Effekte der Kürzungen der Referenzausgaben - sie summieren sich auf etwa 25 Prozent - auf das resultierende Lebensstandardniveau werden im Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) nicht ausgewiesen.
Aus diesem dreistufigen Konstrukt ergibt sich ein Regelbedarfsniveau, das deutlich niedriger ausfällt als die entsprechenden Ausgaben der untersten statistisch nachweisbaren Referenzhaushalte.5
Die Grundstruktur von Reformkonzepten
Ein systematisches Problem im Status quo liegt in der politischen Vorgabe von Referenzeinkommensbereichen. Folgendes Dilemma resultiert daraus: Ohne Streichungen von einzelnen Konsumbereichen würde das Regelbedarfsniveau bei jeder Neuberechnung tendenziell steigen6, was politisch nicht gewollt ist; mit Streichungen ist das Verfahren aber mit der Methode nicht vereinbar.
Reformkonzepte zielen zum einen auf eine Verstärkung der methodischen Aspekte innerhalb der Systematik des RBEG. So fordert der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) - ähnlich wie der Deutsche Caritasverband -, die Referenzeinkommensbereiche einheitlich mit den unteren 20 Prozent des jeweiligen Haushaltstyps abzugrenzen.7 Die Frage, inwieweit Teilhabe möglich und ob der Lebensstandard in den Referenzgruppen vergleichbar ist, bleibt aber weiterhin außen vor. Die Diakonie Deutschland hat diesbezüglich bereits im Jahr 2010 differenziertere Vorstellungen entwickelt.8 Ein weiteres Kernstück des DPWV-Vorschlags und des Konzepts der Diakonie ist es, normativ begründete Streichungen zu unterlassen. Damit käme man zwar dem Grundgedanken des Statistikmodells näher, der Einwand des immanenten Hochschraubens der Regelbedarfe wäre aber nicht ausgeräumt.
Ein anderer Reformweg führt über eine Umstrukturierung des Verfahrens der Regelbedarfsermittlung.9 Im Gegensatz zum Status quo ist vorgesehen, zwischen politischen Setzungen und methodischer Umsetzung strikt zu trennen. Im ersten Schritt ist eine explizite Entscheidung des Gesetzgebers über die Höhe des Existenzminimums in Relation zum Lebensstandard in der gesellschaftlichen Mitte erforderlich. Im zweiten Schritt wird in der EVS ein Referenzeinkommensbereich gesucht, der den normativen Vorgaben entspricht; falls Letztere zu restriktiv sind und keine Gruppe auf derart niedrigem Niveau lebt, gehen die Vorgaben an der gesellschaftlichen Realität vorbei und müssen revidiert werden. Dem Konzept ist also eine untere Haltelinie eigen. Im dritten Schritt schließlich werden die pauschalierbaren Konsumausgaben der resultierenden Referenzgruppe zu Regelbedarfen summiert - ohne weitere normative Einflussnahme der Legislative, also ohne Streichungen. Dieser Reformansatz, der von der Diakonie, der Caritas10 und vom Deutschen Gewerkschaftsbund unterstützt wird, wahrt einerseits einen großen politischen Entscheidungsspielraum und ist andererseits mit der Grundannahme des Statistikmodells vereinbar. Zudem ist ein Hochtreiben der Regelbedarfe systematisch ausgeschlossen - denn es wird nicht ein bestimmter Referenzeinkommensbereich festgeschrieben, sondern ein bestimmter Rückstand gegenüber der Mitte.11
Zirkelschlüsse sind zu vermeiden
Laut Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) werden vor der Bildung der Referenzeinkommensbereiche lediglich Haushalte ausgeschlossen, die Grundsicherung beziehungsweise vergleichbare Leistungen und keine Erwerbseinkommen bezogen haben. Haushalte mit aufstockendem Transferbezug verbleiben aber im Datensatz, obwohl die Anrechnungsfreiheit ihrer Erwerbseinkommen teilweise lediglich den mit der Erwerbstätigkeit verbundenen Mehrbedarf deckt, nicht aber den Lebensstandard anhebt. Zudem werden Leistungsberechtigte, die ihren Anspruch nicht durchsetzen (können), nicht aus dem Datensatz ausgeklammert. Insoweit ist derzeit mit Zirkelschlüssen zu rechnen. Demgegenüber umfassen die Forderungen des DPWV, des Deutschen Caritasverbandes, der Diakonie sowie die Konzepte von Becker/Tobsch12 beziehungsweise Becker/Held13 eine - mehr oder minder weitgehende - Ausklammerung auch von aufstockenden Leistungsbeziehenden sowie von verdeckter Armut. Letzteres ist zwar nur näherungsweise möglich, ausgereifte Methoden liegen aber vor.
Mit dem RBEG wird der pauschalierbare Bedarf weit gefasst. Zwar werden die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) - soweit sie als "angemessen" eingestuft werden - außerhalb des Regelbedarfs erstattet. Kosten für die Anschaffung von Möbeln, Kühlschrank und Waschmaschine ("weiße Ware") gehen aber mit marginalen Beträgen in den Regelbedarf ein, ohne die Grenzen der statistischen Methode zu berücksichtigen. Auch die Stromkosten werden in die aktuellen Regelbedarfe einbezogen, obwohl hier regionale Preisunterschiede vorliegen14 und der individuelle Verbrauch von den Lebensumständen der Grundsicherungsbeziehenden abhängt.15 Insgesamt ist also auch infolge der zu weit gehenden Pauschalierung mit Bedarfsunterdeckungen zu rechnen. Deshalb wird mit allen vorliegenden Reformansätzen eine Verschiebung zumindest der Kosten für "weiße Ware" aus den Regelbedarfen heraus zu Sonderbedarfen mit direkter Erstattung in der notwendigen Höhe gefordert.16 Hinsichtlich der Stromkosten wird von der Caritas eine realitätsgerechte Berechnung der Position im Regelsatz, in den anderen Reformkonzepten die Übernahme der tatsächlichen Ausgaben vorgeschlagen.17
Regelbedarfsermittlung muss umgestaltet werden
Die Berechnungen laut RBEG weisen gravierende methodische Mängel auf und führen zu einer systematischen Unterschätzung von Mindestbedarfen, da der Bezug zu "dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen"18 ausgehebelt ist. Eine Reform ist also notwendig, auch mit Blick auf die Vorhaben "Bürgergeld" und "Kindergrundsicherung" der Ampelkoalition. Mittelfristig ist eine Umgestaltung der Systematik der Regelbedarfsermittlung zu empfehlen, um politischen Entscheidungsspielraum und methodische Anforderungen in Einklang zu bringen. Dies erfordert allerdings Zeit. Angesichts der Dringlichkeit einer zielgerechten
Existenzsicherung und der aktuellen Zunahme der Lebenshaltungskosten sollten deshalb als kurzfristig umsetzbare Maßnahmen die derzeitigen Kürzungen eingeschränkt, die Stromkosten analog zu den KdU übernommen und ein zeitnaher Inflationsausgleich eingeführt werden.
Anmerkungen
1. Ausschließlich der Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU), die einzelfallbezogen erstattet werden.
2. Bundesverfassungsgericht (BVerfG): 1 BvL 1, 3, 4/09 vom 9. Februar 2010, Rn. 133.
3. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP: Mehr Fortschritt wagen. 2021, S. 75, 100.
4. BVerfG 2010, a. a. O., Rn. 166.
5. Becker, I.; Tobsch, V.: Ermittlung der "Grünen Garantiesicherungs-Regelbedarfe". Riedstadt, mimeo, 2020; eigene Berechnungen.
6. vgl. Becker, I.: Bedarfsbemessung bei Hartz IV. Zur Ableitung von Regelleistungen auf Basis des "Hartz-IV-Urteils" des Bundesverfassungsgerichts. Diskussionspapier im Auftrag des Gesprächskreises Arbeit und Qualifizierung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn, 2010, S. 15; vgl. auch Martin Werding: "Wenn man immer eine Einkommensgruppe oberhalb der Grundsicherung zum neuen Maßstab erklärt, würde sich Hartz IV bei jeder Neuberechnung von selbst nach oben schrauben" (Zitat aus: Die Zeit, Ausgabe 32 vom 30. Juli 2020, Wirtschaftsteil).
7. Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband (Hrsg.): Regelbedarfe 2021. Alternative Berechnungen zur Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung. Berlin, 2020; Deutscher Caritasverband: Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des SGB II und SGB XII (BT-Dr. 18/9984), zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes (BT-Dr. 18/9985) und zum Antrag Bündnis 90/Die Grünen (BT-Dr. 18/10250), Freiburg, 2016.
8. Diakonie Deutschland: Erwartungen der Diakonie an die Reform der Grundsicherung. Diakonie Texte 09.2010, Stuttgart, S. 12.
9. Zu Einzelheiten dieses Konzepts vgl. Becker, I.; Tobsch, V., a. a. O., sowie Becker, I.; Held, B.: Regelbedarfsermittlung - eine Alternative zum gesetzlichen Verfahren. Berechnungen auf Basis der EVS 2018 unter Berücksichtigung von normativen Vorgaben der Diakonie Deutschland. Projektbericht im Auftrag der Diakonie Deutschland. Riedstadt und Heidelberg, 2021 (Kurzlink: https://bit.ly/3MvmUed).
10. Siehe dazu die Caritas-Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des SGB XII sowie des AsylbLG vom 20. Juli 2020, Kurzlink: https://bit.ly/3kCtOlU
11. Je nach Entwicklung der Einkommensverteilung kann sich bei jeder Neuberechnung ein anderer Referenzeinkommensbereich als maßgeblich erweisen, vgl. Becker und Held, a. a. O.
12. Becker, I.; Tobsch, V.: Ermittlung der "Grünen Garantiesicherungs-Regelbedarfe", a. a. O.
13. Becker, I.; Held, B.: Regelbedarfsermittlung - eine Alternative zum gesetzlichen Verfahren, a. a. O.
14. Verivox: Strompauschale im neuen Hartz-IV-Satz zu niedrig (31. August 2020). Kurzlink: https://bit.ly/37LpH4j
15. Da davon auszugehen ist, dass Grundsicherungsbeziehende entsprechend dem hohen Anteil von Erwerbslosen durchschnittlich mehr Zeit in der eigenen Wohnung verbringen als andere Bevölkerungsgruppen und zudem keine Mittel zur Anschaffung von energiesparenden Haushaltsgeräten haben, ist mit vergleichsweise hohem Stromverbrauch zu rechnen.
16. Siehe Stellungnahme der Caritas, a.a.O., direkter
Kurzlink: https://bit.ly/3kCtOlU
17. Ebd.
18. BVerfG 2010, a. a. O., Rn. 133.
Langzeitarbeitslose nicht abhängen
Dauerbaustelle SGB II
Mehr Partnerschaftlichkeit wagen
Klimaschutz statt Armut
Ein Plus fürs Arbeitsklima
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}