Dauerbaustelle SGB II
Siebzehn Jahre nach Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende plant die Ampelkoalition mit dem Bürgergeld ein grundlegendes SGB-II-Reformgesetz. Im Koalitionsvertrag kann man nachlesen, was in puncto Bürgergeld vereinbart wurde. Die Grundsicherung soll nicht nur einen neuen Namen erhalten, sondern auch inhaltlich an mehreren Stellschrauben weiterentwickelt werden: "Das Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein."1 Die konkrete Ausgestaltung wird im Detail noch vielen Diskussionen in der Ampelkoalition unterliegen. Das zeigt sich bereits bei der unterschiedlichen Bewertung des Begriffs Sanktionsmoratorium.2 Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat hierzu im März eine Übergangsregelung vorgelegt, die in der ersten Fassung vorsah, die Sanktionen komplett auszusetzen. In der vom Kabinett verabschiedeten Fassung wurde dann eine Teilaussetzung daraus.
Weniger bürokratisch
Bereits während der Pandemie erprobte Änderungen der Leistungszugänge sollen bei der Bürgergeldreform verstetigt werden. In den ersten zwei Jahren ist geplant, den Einstieg ins SGB II großzügiger und weniger bürokratisch zu gestalten. Die temporäre Nichtberücksichtigung von nicht erheblichem Vermögen und der Verzicht auf Prüfung der Angemessenheit der Wohnung sind zu begrüßen.3 Sie können aus Sicht der Caritas zu einer Entstigmatisierung der Grundsicherung beitragen, da dadurch die Lebensleistung von kurzfristig in den Leistungsbezug geratenen Bürgergeldempfänger:innen stärker als bislang anerkannt wird.
Die Kosten der Unterkunft reformieren
Die Beratungspraxis der Caritas zeigt, dass es für viele Menschen im Grundsicherungsbezug vor allem in Ballungszentren schwierig ist, angemessenen Wohnraum zu finden. Zu niedrig angesetzte Obergrenzen, die dem Wohnungsmarkt vor Ort nicht gerecht werden, haben zur Folge, dass die tatsächlichen Wohnkosten nicht in voller Höhe übernommen werden. Es ist positiv, dass bei der Bürgergeldreform die Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) neu geregelt und ein gesetzlicher Rahmen für die Anwendung der kommunalen Angemessenheitsgrenzen geschaffen werden soll. Mit Sorge sieht die Caritas aber den Vorschlag des Koalitionsvertrags, dass die KdU als regionalspezifische Pauschale ausgezahlt werden soll.4
SGB-II-Eingliederungsprozesse kooperativer gestalten
Angedacht ist, die Beratungsqualität in den Jobcentern zu verbessern. "Kund:innen" hatten bisher wenig Autonomie, "Nein" zur Eingliederungsvereinbarung zu sagen. Das soll sich nun ändern. Die Eingliederungsvereinbarung soll zu einer Teilhabevereinbarung weiterentwickelt werden, die auf Augenhöhe zwischen Jobcenter und Bürgergeldbeziehenden ausgehandelt wird. Dies hat die Caritas seit vielen Jahren gefordert. Stärken und Entwicklungspotenziale sollen durch ein Kompetenzfeststellungsverfahren ermittelt und für Konfliktfälle unabhängige Schlichtungsmechanismen geschaffen werden.5
Ganzheitliche Förderung
Das Bürgergeld soll eine individuelle und ganzheitliche Förderung ermöglichen. Stärker genutzt werden sollen Leistungen anderer Sozialgesetzbücher. Die Zusammenarbeit zwischen Jobcentern und Kommunen soll durch Kooperationsvereinbarungen intensiver werden.6 Unklar ist hier, ob in den einzelnen Sozialgesetzbüchern auch inhaltlich angepasst wird, was die Caritas für die bessere berufliche Integration von Jugendlichen seit vielen Jahren fordert.7
Den Vermittlungsvorrang abschaffen
Die gegenwärtige Orientierung der Grundsicherung für Arbeitsuche an einer raschen Vermittlung in jedwede Form der Arbeit
hat zu einer Geringschätzung abschlussorientierter beruflicher Weiterbildung geführt. Dies ist spätestens in einer durch einen Digitalisierungsschub gekennzeichneten Arbeitswelt der falsche Ansatz. Mit der Streichung des Vermittlungsvorrangs8 wird mit der Bürgergeldreform nun ein zentraler Webfehler in der Grundsicherung beseitigt. Die Weiterbildung und vollqualifizierende Ausbildung zu stärken, die Weiterbildungsprämienregelung zu entfristen sowie einen befristeten Bonus9 zu zahlen sind Maßnahmen, die sich nur auf eine nachhaltigere gesellschaftliche (Re-)Integration Langzeitarbeitsloser auswirken werden, wenn gleichzeitig im SGB II die Mittel für Weiterbildung erhöht werden. Umschulungen sind teuer und brauchen Zeit, können aber zu einer nachhaltigen Integration beitragen. Damit der Bonus auch Menschen mit geringer beruflicher Qualifikation, mit Migrationshintergrund und Arbeitslose erreicht, die bisher in der Weiterbildung stark unterrepräsentiert sind, kommt es auf eine sachgerechte finanzielle Ausgestaltung an. Diese ist im Koalitionsvertrag bisher nicht spezifiziert.
Arbeitsmarktförderung passgenau gestalten
Arbeitsmarktferne Personen mit und ohne Migrationshintergrund benötigen eine einzelfallorientierte, passgenaue und arbeitsmarktnahe Förderung. Der im Koalitionsvertrag angedachte verbesserte Personalschlüssel10, der auch mit Finanzmitteln hinterlegt werden soll, ist ein entscheidender Punkt für bessere Beratung. Die Entfristung der §§ 16 i und e SGB II sowie die Aufwertung der Freien Förderung nach § 16 f SGB II sind richtige Schritte, damit auch längerfristig wirkende Förderinstrumente angewendet werden können.11 Die Erfahrungen zeigen, dass für eine erfolgreiche Anwendung jedoch hinreichend Finanzmittel gegeben sein müssen, die eine mehrjährige Förderung ermöglichen. Dazu steht im Koalitionsvertrag leider nichts.
Kooperation mit der Jugendhilfe stärken
Besser gelingen soll zukünftig die berufliche Integration junger Menschen. Dafür soll die Kooperation mit der Jugendhilfe gestärkt werden, indem gemeinsame Anlaufstellen von Jugendhilfe und Arbeitsförderung geschaffen werden. Konkret genannt wird ein Instrument, das vor wenigen Jahren neu ins SGB II eingeführt wurde, § 16 h SGB II.12 Dieser ermöglicht eine ganzheitliche Integration und Förderung von jungen Menschen in enger Kooperation von Jobcenter (SGB II) und Jugendhilfe (SGB VIII). Solche Leistungen sollen auch im Falle der Sanktion von Jugendlichen Anwendung finden, indem diese ein mit der örtlichen Jugendhilfe abgestimmtes Coaching-Angebot erhalten.13 Dies setzt aus Sicht der Caritas einen flächendeckenden Ausbau dieser Förderung in Kooperation mit der Jugendhilfe voraus. Die Angebote müssen unbedingt freiwillig und sanktionsfrei erfolgen, an der Lebenswelt der Jugendlichen orientiert sein und den jungen Menschen Respekt und Wertschätzung entgegenbringen.
Bessere Zuverdienstmöglichkeiten
Die Ampelkoalition möchte bei der Bürgergeldreform auch die Zuverdienstregelungen ändern und die Anreize für sozialversicherungspflichte Erwerbstätigkeit erhöhen.14 Diese Änderungen werden jedoch nicht Gegenstand der Gesetzgebung zum Bürgergeld sein. Um Reformmodelle zu entwickeln, ist zunächst eine unabhängige Kommission mit qualifizierten und unabhängig arbeitenden wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen geplant. Aus Sicht der Caritas ist es gut, dass hier sorgfältig abgewägt werden soll, da sich Reformen der Zuverdienstgrenzen immer stark auf den Kreis der Leistungsberechtigten auswirken und damit fiskalisch schnell teuer werden können.
Grundsicherung bedarfsgerecht ausgestalten
Damit das Bürgergeld tatsächlich echte Teilhabe möglich macht, wird es entscheidend auf die Höhe der Leistung ankommen. Nach Meinung der Caritas ist es dringend erforderlich, das soziokulturelle Existenzminimum neu zu berechnen und anzuheben. Zu dieser essenziellen Frage findet sich im Kapitel Bürgergeld des Koalitionsvertrages jedoch keine Aussage. An dieser Stelle muss sich die Koalition schnell bewegen. Andernfalls bleibt von der Grundidee, Hartz IV zu überwinden, nichts übrig, und ein Bürgergeld wäre alter Wein in neuen Schläuchen.
Anmerkungen
1. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP: Mehr
Fortschritt wagen, Zeile 2480-2482.
2. Ebd., Zeile 2508.
3. Ebd., Zeile 2484-2486.
4. Ebd., Zeile 2488-2491.
5. Ebd., Zeile 2493-2501.
6. Ebd., Zeile 2512-2515.
7. Deutscher Caritasverband: Empfehlungen zur beruflichen Integration junger Menschen. In: neue caritas Heft 10/2015, S. 31 ff. (Kurzlink: https://bit.ly/3KJNG23 .
8. Koalitionsvertrag, Zeile 2518.
9. Ebd., Zeile 2519-2524.
10. Ebd., Zeile 2559-2561.
11. Ebd., Zeile 2526-2527 und 2516.
12. Ebd., Zeile 2529-2531.
13. Ebd., Zeile 2506-2508.
14. Ebd., Zeile 2540-2552.
Langzeitarbeitslose nicht abhängen
Dauerbaustelle SGB II
Regelbedarfsermittlung: Neustart erforderlich
Mehr Partnerschaftlichkeit wagen
Klimaschutz statt Armut
Ein Plus fürs Arbeitsklima
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