Wenn seelische Wunden wieder aufbrechen
Aus Scham hat sie ihr ganzes Leben nicht darüber gesprochen. Erst in einem Beratungsgespräch mit einer Therapeutin öffnet sich die 80-Jährige, erzählt, wie sie mit 15 Jahren Opfer einer Vergewaltigung wurde. "Sie hatte immer das Gefühl, sie würde deshalb schief angesehen werden", erklärt Anke Lesner, Therapeutin und Fachberaterin für Psychotraumatologie bei "Wildwasser" in Bielefeld. "Deshalb hat sie nie etwas erzählt."
Bei einer Tagung der Caritas-Konferenzen im Erzbistum Paderborn sensibilisierte Lesner Haupt- und Ehrenamtliche aus der Altenhilfe dafür, wie frühere traumatische Erfahrungen im Leben alter Menschen bis heute nachwirken können. "Die Zeit heilt nicht immer alle Wunden", so die Erkenntnis, die als Titel über der Fortbildung stand.
Gerade im Alter würden häufig unverarbeitete und verdrängte traumatische Erfahrungen bei alten Menschen wieder hochkommen, sagt Anke Lesner. "Die seelische Widerstandskraft kann durch das Alter oder einschneidende Umbrüche wie den Tod des Partners geschwächt werden", erklärt sie. "Was sonst gedeckelt war, kommt plötzlich hoch." Durch gewisse Trigger werde eine unverarbeitete schreckliche Erinnerung wachgerufen, die Panik auslösen könne, erklärt Lesner.
Lange seien die dann hochkommenden Erinnerungen vor allem geprägt gewesen von Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg oder der Nachkriegszeit. Denn in Deutschland seien in der Kriegszeit schätzungsweise mehr als 800.000 Frauen vergewaltigt worden. Mit zunehmendem Alter der Betroffenen kämen vermehrt auch andere traumatische Erlebnisse wie Missbrauchserfahrungen in Heimen vor. Zukünftig könne man erwarten, dass die traumatischen Erfahrungen der Flüchtlinge eine Rolle spielen werden. Das Thema Trauma im Alter werde sich demografisch deshalb nicht erübrigen, ist sich Anke Lesner sicher.
Ihr ist es deshalb ein Anliegen, Angehörigen und Akteuren in der Altenhilfe praktische Hinweise zu geben, wie sie damit umgehen können. "Wenn jemand unvermittelt in Not oder Panik gerät, braucht er sofort Hilfe. Dafür muss man aber nicht unbedingt fünf Jahre Psychoanalyse betrieben haben." Hilfreich könne schon sein, die Hand zu reichen oder das Gegenüber zu animieren, aufzustehen und mit dem Fuß aufzustampfen. Denn gerade auch bei dementiell Erkrankten würden Worte meist nicht weiterhelfen. "Nicht alles muss psychologisiert werden", sagt die Therapeutin. Vielfach reiche ein Kontakt aus. Wie bei einer alleinlebenden älteren Dame, bei der traumatische Erinnerungen häufig durch Fernsehnachrichten ausgelöst wurden. Ihr helfe ein Hund, den sie kraulen könne und der ihre Hand leckt, berichtet Anke Lesner. Sie ermutigte die Haupt- und Ehrenamtlichen in der Altenhilfe herauszufinden, was dem traumatisierten Gegenüber konkret hilft.
Vielen älteren Frauen fehle einfach auch das Vokabular, um Missbrauchserfahrungen als solche benennen zu können. Eine Frau, der "die Ehre genommen" wurde, die "geschändet" wurde, die ihre "ehelichen Pflichten" erfüllen musste, habe in heutigen Worten sexuelle Gewalt erfahren, betont Anke Lesner. "Manche fragen mich auch nur, ob das, was ihnen widerfahren ist, ok war. Wenn ich dann sage, eindeutig nein, sind viele beruhigt: Ok, das wollte ich nur wissen."