Liebe nährt
Not sehen und handeln - seit Jahrzehnten ist dies ein Leitspruch der Caritas. Vor genau 75 Jahren ließ sich der damals 31-jährige Eichstätter Domkaplan Karl Welker (1914-1993) spontan vom Elend der Menschen anrühren und organisierte aus dem Nichts eine bemerkenswerte Hilfsaktion: Die Teestelle der Caritas. Sie nahm am Pfingstsonntag, 20. Mai 1945 ihren Dienst auf.
Menschen unterwegs
Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg zu Ende war, setzte in Deutschland eine große Wanderungsbewegung ein. Überall auf den Straßen waren Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Heimatvertriebene und Kriegsheimkehrer unterwegs. "Aus allen Himmelsrichtungen bewegten sich die zerlumpten, von Hunger und Krankheit gezeichneten Gestalten, müde und nur spärlich bewacht, durch die Stadt", erinnert sich der Eichstätter Helmut Hawlata (*1933) an diese Zeit.
Domkaplan Welker bewegte diese Not: "Selbst wenn es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein kann, den Hungrigen und Durstigen muss unbedingt geholfen werden." Deshalb organisierte er mit Unterstützung von Caritasdirektor Eduard Wohlmuth (1908-1994) spontan eine Hilfsaktion. Direkt an der Bundesstraße (B 13), neben dem Flurkreuz an der Aumühle, ließ er eine Bude mit Bänken und Tischen aufstellen. Er mobilisierte seine Pfarrjugend und teilte sie zum Schichtdienst ein. Junge Frauen wie die 17-jährige Irmgard Thiermeyer (1928-2015) übernahmen den Service. Ihre Tagebuchaufzeichnungen und die Recherchen von Dr. Richard Diener (1932-2020) schildern die selbstlose Hilfe des Seelsorgers.
"Wir brauchen dich!"
Mit viel Spontanität und enormer Tatkraft organsierte Welker Essen und Personal. "Habt ihr noch was zum Essen übrig?", fragte er. "Nein, nur noch einen Wasserpudding." "Pack den ein, wir brauchen ihn für hungrige, entlassene Soldaten und komm‘ gleich selbst mit! Wir brauchen dich!" So wurde Therese Rindfleisch (1928-1911) bei der Teestelle dienstverpflichtet.
Angesichts der allseits herrschenden Not erscheint es unvorstellbar, woher die großen Mengen an Brot, Wurstaufstrichen und Marmeladen kamen, die vom 20. Mai bis zum 25. September 1945 an die vorbeiziehenden Menschen ausgegeben wurden. Vermutlich konnte der Caritasverband über größere Mengen an Fleischkonserven aus ehemaligen Wehrmachtsbeständen verfügen. Die Marmeladen wiederum stammten wohl aus privaten Spenden. Kaplan Welker selbst opferte seine eigenen bis auf das letzte Glas. Die Amerikaner wiederum beäugten den Dienst an der Teestelle anfangs kritisch. Sie "sprachen uns an, was da läuft", schrieb Thiermeyer am 22. Mai 1945 in ihr Tagebuch, "Sie glaubten, wir trieben Spionage." Doch in holprigem Schulenglisch war das Missverständnis rasch aufgeklärt.
Belegte Brote
Vier Monate lang wurden in Küche und Wohnzimmer der Aumühle die belegten Brote vorbereitet. Frauen vermengten jeweils zwei Büchsen Rindfleisch mit einer Büchse Schweinefleisch, denn dieses alleine wäre zu fett gewesen. Auf großen schwarzen Bäckerblechen jonglierten sie die Brote schließlich den Abhang hinauf zur Teestelle. Die Helferinnen nahmen sich selbst nichts von den Broten, sondern brachten ihre eigene Verpflegung von zuhause mit. Dies hatte Kaplan Welker ausdrücklich so angeordnet.
Buben als Teefahrer
Den Tee bereiteten die Küchen des Priesterseminars oder der Englischen Fräulein zu. In den Sommerferien halfen Schuljungen als "Teefahrer" beim Transport. "Unsere Eltern waren froh", schrieb Zahnarzt Dr. Richard Diener, "dass wir einer vernünftigen Beschäftigung nachgingen und uns nicht nur gelangweilt bei den Amis herumtrieben". Mehrmals am Tag holten die Buben in einem riesigen Aluminiumtopf heißen Tee aus den Küchen am Residenzplatz. In Leiterwagen und anderen Gefährten balancierten sie ihre "schwabbrige Ladung" in Richtung Aumühle. Da einige Brücken über die Altmühl gesprengt waren, war der Weg für die Jungen recht beschwerlich.
Dieners Schulfreund Otmar Reichmeyer konnte mit seinem Motorradanhänger zwar die Abkürzung über den Altmühl-Wehrübergang nehmen, musste aber die Teetöpfe jedes Mal einige Stufen rauf und runter hieven, um über den Steg zu kommen. Dieners holpriger Leiterwagen war für den Übergang zu breit und so blieb ihm nichts anderes übrig, als den weiten Umweg über die Spitalbrücke zu nehmen. Wenn die beiden ihre Tee-Ladung an der Verpflegungsstelle abgeliefert hatten, setzten sie sich auf die Böschung und machten die Vorbeiziehenden wie Jahrmarktschreier auf die Caritas-Teestelle aufmerksam: "Wolle Se was zu esse, wolle Se was zu trinke? Dann komme Se zu uns!"
Abenteuerlichste Gestalten
Der Tross an orientierungslosen Menschen, die sich zögerlich und misstrauisch näherten, bestand aus den "abenteuerlichsten Gestalten", erinnerte sich Diener. "In abgerissenen Kleidungsstücken, junge und alte, mit verschlissenen Hüten, alten Militärmützen und Kopftüchern". Auch das Gepäck der Menschen zeugte von ihrer großen Not: Tornister und abgeschabte Rucksäcke, verschnürte Koffer oder Pappkartons. Nur wenige hatten ein Gefährt. Die meisten waren zu Fuß unterwegs, oft mit zerrissenen Schuhen oder Lumpen an den Füßen.
Kaplan Welker begegnete ihnen mit Respekt. Er nannte sie "Wanderer", eine Bezeichnung ohne jegliche Stigmatisierung. Mit den Broten stillte er ihren Hunger und mit der Rast nährte er ihre Seele. Schier ungläubig über die Freundlichkeit ließen sich die Menschen auf den harten Holzbänken nieder. Sie waren glücklich und suchten das Gespräch. Im bereitliegenden Buch trugen sie ihre Namen ein und studierten die Einträge - immer in der Hoffnung, einen Bekannten oder Verwandten wiederzufinden. Wie das Motto der letzten Caritas-Herbstsammlung "Liebe nährt" hatte die Teestelle damit zwei Funktionen: nicht nur dem Leib, sondern auch der Seele Nahrung zu geben.