Caritas als Wohnraum-Beschafferin
Eine bezahlbare Wohnung in Stuttgart – davon träumen zurzeit viele Menschen, die hier ein neues Zuhause suchen. Denn der Wohnungsmarkt ist leergefegt. Alle Flächen in der Stadt, auf denen noch Wohnungen gebaut werden dürfen, sind bis 2020 bereits verplant. Was für Häuslebauer in spe vielleicht nur ärgerlich ist, ist für andere eine Katastrophe. Für die, die nur wenig oder gar kein Geld haben: Alleinerziehende, Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger(innen), Suchtkranke, Obdachlose. Oder Familien mit geringem Einkommen. Für sie ist ein Mietvertrag wie ein Lottogewinn.
Diese Entwicklung bereitete auch Manfred
Blocher jahrelang Kopfschmerzen.
So lange, bis Blocher, der als Bereichsleiter
beim Caritasverband für Stuttgart
für die Themen Armut, Wohnungsnot
und Schulden zuständig ist, eine Idee
kam. Eine Idee, mit der er vielen Klient(inn)en
der Caritas zu einer bezahlbaren
Wohnung verhalf – ausgerechnet in
Stuttgart!
Das schier Unmögliche gelang
durch die Zusammenarbeit mit der Caritas
Stiftung Stuttgart. In Zeiten niedriger
Zinsen verlegte sich die Förderstiftung
für die Stuttgarter Caritas von der
Geldmittelbeschaffung auf die Sachmittelbeschaffung.
Sprich: auf die Beschaffung
von Sozial-Immobilien. Und an dieser
Stelle kam Manfred Blocher ins Spiel.
Geldgeber müssen sich um nichts kümmern
Um es kurz zu machen: Mit dem „Investor-Betreiber-Modell für Sozial-Immobilien“, wie es etwas sperrig im
Verwaltungsdeutsch heißt, werden potente
Investor(inn)en, reiche Privatiers oder
vermögende Senior(inn)en dafür gewonnen,
eine Immobilie zu bauen oder zu kaufen
und sie dann langfristig an die Caritas zu
verpachten. Mindestens für zehn Jahre.
Die Wohnungen nutzt die Caritas entweder
selbst oder vermietet sie an Klient(inn)en
oder Menschen mit Mietberechtigungsschein,
die auf dem Wohnungsmarkt
nie und nimmer eine Chance hätten. In einer „Nicht-Kümmerer-Vereinbarung“
garantiert die Caritas dem Eigentümer
langfristig einen festen Zins (inklusive
Inflationsausgleich), die Verwaltung und
Instandhaltung der Liegenschaft. Der/die
Geldgeber(in) kümmert sich um nichts und
streicht am Jahresende sein Geld ein.
Viele Investoren überzeugt die Sicherheit,
die die Caritas als „1-a-Mieterin“
bietet. Die Caritas-Mitarbeitenden übernehmen
den Papierkram, gehen mit der Architektin
zum Baurechtsamt, erledigen
Behördengänge, kümmern sich um Genehmigungen
und, und, und. Außerdem
springt die Caritas ein, wenn durch Mieter(innen) Schaden entsteht, und ist Ansprechpartnerin
bei „schwierigen Fällen“. Auch
dies macht das Modell attraktiv für Investoren,
die keinen Ärger haben wollen.
Nicht zuletzt weiß der Eigentümer,
dass seine Immobilie einem guten Zweck
dient. Kurzum: Er findet hier eine sinnstiftende,
renditestarke Geldanlage bei
garantiertem Werterhalt, mit der er null
Arbeit hat.
„Am Anfang viel Lehrgeld bezahlt“
Was im Rückblick recht einfach klingt, war zunächst harte Arbeit. „In den ersten Jahren haben wir Lehrgeld bezahlt“, räumt Manfred Blocher freimütig ein. Rund 100.000 Euro gingen durch Mietausfälle verloren. „Wir waren etwas blauäugig am Anfang“, so Blocher selbstkritisch. In den Sozialarbeitern schlugen oft zwei Herzen: das des Betreuers und das des Vermieters. Daher wurden Sozialarbeit und Wohnungsverwaltung personell strikt getrennt. Hierzu wurde 2010 der Dienst „Dezentrale Wohnraumbewirtschaftung“ mit drei Mitarbeitern ins Leben gerufen, der einerseits die Rolle des Vermieters übernimmt und andererseits Caritas-Immobilien professionell bewirtschaftet. Der Bereich bündelt heute Kompetenzen und Know-how des Caritasverbandes in Sachen Wohnraumbeschaffung und Wohnraumverwaltung. Die Trennung von Sozialarbeit und Vermieterrolle erwies sich als Erfolgsmodell. Seit Juli 2016 übernimmt der Querschnittsbereich Immobilien-Management mit mittlerweile 28 Mitarbeitenden im technischen und kaufmännischen Bereich sukzessive die Bewirtschaftung aller Caritas-Immobilien.
Die Caritas lernte den Spagat, sozialer als andere sein zu müssen und die Objekte dennoch wirtschaftlich zu betreiben. Fast ganz ohne Eigenmittel. Die Mieteinnahmen decken die Refinanzierung. Denn Blocher will mit seinen „Null-Problemo-Immobilien“, wie er sie liebevoll nennt, keinen Gewinn, aber auch keinen Verlust machen. Die drei Prozent Rendite werden für Ausfälle und Restrisiken verwendet. Inzwischen blühen überall in der Landeshauptstadt kleine Null-Problemo-Immobilien auf, von der Einzimmerwohnung bis zu einem Objekt mit 25 Wohnungen. Für Manfred Blocher eine „Win-win-win-Situation“: „Die Klienten, die Investoren und die Stadt profitieren.“ Kleine, dezentrale Einheiten vermeiden die Entstehung sozialer Brennpunkte. Menschen mit Unterstützungsbedarf wohnen normal, selbstbestimmt und unabhängig von Einrichtungen für Wohnungslose oder Kliniken.
Vom Bittsteller zum Partner
Ein schöner Nebeneffekt ist der Imagegewinn
der Caritas: Früher betrat Manfred
Blocher das Stuttgarter Rathaus
meist nur als Bittsteller und Mahner.
„Jetzt werden wir ganz anders wahrgenommen
und gelten als attraktiver Geschäftspartner.
Denn wir fordern nicht
nur, sondern gehen sogar mit gutem
Beispiel voran.“ Was Blocher aber nicht
davon abhält, den Blick für die tatsächlichen
Probleme zu behalten: „Durch unser
Engagement gleichen wir politisches
Versagen aus. Die Stadt hat zu wenig für
sozial Schwache getan.“
Dies belegt Stuttgarts Wohnungsnotfallkartei
mit über 4000 Menschen, die
dringend eine Wohnung brauchen. 1992
gab es noch rund 22.000 Sozialwohnungen,
2015 nur noch 15.000. Jährlich fallen
etwa 450 weitere Wohnungen aus der
Sozialbindung, die – je nach Förderung –
nach 25 bis 40 Jahren erlischt. Nach
einer Sanierung steigt die Miete dann
schlagartig – im Schnitt um 30 Prozent.