Reza sagt: "Ich werde ein Buch schreiben"
Die jungen Männer werden meist anschließend in ihren eigenen vier Wänden noch durch Mitarbeiter der Caritas nachbetreut.
Noch ist Rezas Buch ein Konstrukt von Gedanken, Tatsachen und Empfindungen. Die Kapitel umfassen seine Vergangenheit in einem fernen Land, welches mit seiner Familie, dem Überlebenskampf selbst im Kindesalter, dem korrupten Schulsystem und Beziehungsgeflechten, dem Essen, welches so anders schmeckt, zu tun hat. Weitere drei Monate schließen sich als nächster Teil an. Drei Monate, die durch Pakistan, den Iran und die Türkei führen: Lösegeld, Gewehrsalven, Verstecke - Todeswahrscheinlichkeit und immer wieder Glück führen zu den medial bekannten Bildern an die Ägäis und darüber hinaus an die griechische Küste, um kurz vor Weihnachten über Nürnberg im winterlichen Görlitz des Jahres 2015 anzukommen. Klare greifbare Bilder in Sekundenbruchteilen und Tage der Vergessenheit bilden ein Netz, welches aus der Gegend um Mazar-i-Sharif im Norden Afghanistans in die Oberlausitz, in den östlichsten Teil Sachsens reicht.
Das Gestern mit dem Heute und Morgen verbinden
Um den Gegensatz zwischen Rezas Leben in Afghanistan und Deutschland zu verdeutlichen, schildert er folgende Gedanken. Schon mit sechs, sieben Jahren sorgt der kleine Reza mit für das Familieneinkommen. "Kinder verkaufen verschiedene Sachen auf der Straße. Ich habe auch verkauft. Mal war es Wasser oder Tee, mal waren es Zigaretten oder Gießkannen. Ich habe immer die anderen Kinder beobachtet und gelernt. Im Winter gingen warme Getränke gut, im Sommer eher Wasser. Von dem Geld konnten wir dann auch manchmal privat Schulstunden bezahlen."
Der jetzt 18-Jährige hat gerade das Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) als bester seines Jahrgangs beendet und beginnt mit dem neuen Ausbildungsjahr eine Lehre als Zerspanungsmechaniker im Görlitzer Siemenswerk, welches vor Monaten durch Schließungspläne deutschlandweit für Schlagzeilen sorgte. Später würde Reza gern Meister oder Techniker werden, eine eigene Familie gründen und sich seinen Traum, einmal nach Kanada zu reisen, erfüllen.
Mit beiden Beinen auf dem Boden
Gerade ist Reza mit dem Umzug in seine eigene Wohnung beschäftigt. Mit der Arbeitserlaubnis der Ausländerbehörde ist es ihm auch möglich, einen Antrag auf dezentrale Unterbringung, das heißt auf eigenen Wohnraum zu stellen. Da die Kosten für eigenen Wohnraum klar begrenzt sind, ist es selbst in Görlitz kein Kinderspiel mehr, eine förderfähige Wohnung zu finden. Mit Unterstützung von Tom Meerwald, einem Betreuer aus dem Bereich Verselbstständigungswohnen, wurden mehrere Wohnungen besichtigt und tatsächlich eine geeignete gefunden. Innerhalb von drei Wochen müssen jetzt noch zumindest die Wände gestrichen und verwertbare gebrauchte Möbel besorgt werden. "Die meisten Probleme stellen häufig die Küchen dar, die mit ihrer Größe und ihren Anschlüssen in die jeweilige Wohnung passen muss," meint sein Betreuer. Mit dem Neubeginn in der eigenen Wohnung steht der 28-jährige Sozialpädagoge für Reza noch drei Monate für Fragen und Klärungen zur Seite. Da müssen die Kosten für die Erstausstattung abgerechnet werden, die Anmeldung bei den Stadtwerken muss erfolgen. Die Überweisung des Rundfunkbeitrags muss getätigt werden. Aber auch die ersten Wochen Ausbildung und Alleinwohnen müssen durch Reza bewältigt werden. Meist ist es gut, in diesen Situationen einen erfahrenen Ansprechpartner an der Seite zu haben.
Traum - Chance - Wirklichkeit
"Manchmal denke ich, ich träume," sagt Reza. "Ich habe hier alles, was ich noch nie hatte. Ich habe seit fast drei Jahren alles, was ich zum Leben brauche und vor allem Sicherheit. Ich kann hier in Ruhe lernen und hatte bisher eine gute Schule. Und Angst brauche ich auch nicht mehr zu haben." Der junge Mann mit seinen lockigen schwarzen Haaren erzählt, dass er im Jugendwohnen der Caritas viele wichtige Dinge gelernt hat und dass es das Beste war, was ihm passieren konnte, dass er bei der Caritas gelandet ist. Er kann jetzt kochen, er wäscht seine Kleidung selbstständig, er weiß wie man saubermacht und wie der Müll hier in Deutschland sortiert wird. Vor allem hat Reza auch gelernt, mit den anderen neun jungen Männern des Jugendwohnens den Alltag gemeinsam zu bewältigen und Konflikte zu klären. Sein damaliger Bezugsbetreuer schildert, dass Reza in der Anfangszeit so manchmal die Tür zuschmiss, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Inzwischen ist er für viele Mitbewohner zum Vorbild geworden. Er selber meint, dass er vor allem einen ruhigen Platz braucht. "Ich möchte ein normales Leben. Ich möchte anderen keine Probleme machen. Und Probleme mit anderen möchte ich auch nicht." Immer wieder betont der junge Afghane, dass er sein Ziel kennt und vor allem, dass er es selber erreichen kann.
Alltagsrealitäten
Zum Schluss des Gespräches wird Reza nochmals ernst. Es schmerzt ihn, wenn er im Zug zweimal kontrolliert wird und die deutschen Mitfahrer nur einmal ihr Ticket zeigen müssen. Auch das häufige Gefühl, dass alle Ausländer schlecht sind, ist im Alltag wahrnehmbar. Er sagt: "Ich bin jetzt seit über 32 Monaten hier und ich habe nichts Schlechtes gemacht. Und wenn die anderen Scheiße machen, so musst du auch nach dem Warum fragen und was der Mensch im Herzen hat. Ich verstehe das, dass manche wegen der Angst, abgeschoben zu werden, verrückt werden." Trotzdem ist im Gespräch mit Reza immer wieder direkt oder indirekt die Dankbarkeit herauszuhören, dass er hier so ein hohes Maß an Unterstützung erhalten hat und dass er weiß, dass dies nicht selbstverständlich ist.
Junges Wohnen überzeugt
Seit Mitte 2017 nun ist die Flüchtlingsarbeit der Caritas in Görlitz durch die drei Projekte des "Jungen Wohnens" modifiziert und somit gut auf die Bedürfnisse der Jugendlichen und jungen Männer abgestimmt. Während im Jugendwohnen die unter 18-jährigen Flüchtlinge individuell gefördert werden, aber auch als Gruppe zusammenwachsen, ist das Verselbstständigungswohnen als Scharnier in das eigenverantwortliche Leben gedacht. Die Verantwortung liegt hier zu großen Anteilen bei den jungen Männern selbst. Die Betreuer fungieren hier eher als Begleiter und Berater. Als dritter Projektbaustein setzt die Nachbetreuung im eigenen Wohnraum den Schlusspunkt. Dieses Ausschleichen der Hilfe ist wichtig, um die eingeschlagene Entwicklung der jungen Männer behutsam in deren eigene Hände zu legen.
Um nicht ganz ohne Netz für Nachfragen und später entstehende Sorgen dazustehen, ist es in der Ablösephase wichtig, den jungen Männern Ansprechpartner an die Hand zu geben. Hier ist es ein Glücksumstand, dass die Caritas vor Ort eine Migrationsberatung betreibt, die klärend und vermittelnd tätig ist.
Ein Satz, der prägend für das Gespräch mit Reza war und vielleicht dereinst auf der Schlussseite seines Buches stehen wird, lautet: "Manchmal muss man was im Leben verlieren, um was zu erreichen."
INFO:
Caritas-Region Görlitz
Junges Wohnen
Blumenstraße 36, 02826 Görlitz
Telefon: 03581-401036
E-Mail: jugendwohnen.leitung@caritas-goerlitz.de