Ganz veränderte Prioritäten
Kinder sind oft traumatisiert. Wie Slavic (8), den Oksana Kuimova gerade besucht. Die Projektleiterin der Hilfe für die Vertriebenen macht bei geflüchteten Familien Hausbesuche, um sich ein Bild über ihre Lebenssituation zu verschaffen. So auch bei Slavics Mutter Lena und seinem kleinen Bruder Matej (eineinhalb). Der Vater ist noch auf der Arbeit. Auch wenn er hier im Westteil des Landes mit seiner Ausbildung längst nicht so viel verdient wie zuvor im Osten, so sei die Familie doch froh, bereits wieder Fuß gefasst zu haben, betont Lena. "Es ist schwer, völlig neu zu beginnen. Wir hatten gerade unser neues Haus bezogen", berichtet sie. "Nun ist wohl alles verloren. Aber ich bleibe optimistisch. Wir sind noch jung, und Sicherheit für die Kinder ist das Wichtigste!"
Lena hat ihre Gedanken und ihren derzeitigen Gefühlszustand in einem Gedicht zusammengefasst, um die Erlebnisse zu verarbeiten: "…aber tötet nie andere Menschen, denn der Hass wird alles andere auch zerstören", appelliert sie darin. "Der Kleine hat, Gott sei Dank, noch nichts von alldem mitbekommen. Aber Slavic, unser Großer, hat jetzt noch Angst vor Lärm und lauten Motorengeräuschen - wir hoffen, dass er es bald vergessen kann!"
Die Caritas kann nur zur Ersthilfe beitragen
Dienstags und donnerstags kommen die Menschen aus dem Donbas, aus Donezk und Luhansk sowie von der Krim, die es nach Iwano-Frankiwsk verschlagen hat, in das Haus der Caritas. Aus dem großen Sitzungs- und Speisesaal im Haus, der zum Lager für Hilfsgüter umfunktioniert wurde, holen die Mitarbeiter gemäß einer vorher festgelegten Liste die entsprechenden Artikel. Die Vertriebenen - da sie keine Staatsgrenze zu ihrem derzeitigen Aufenthaltsort überschritten haben, spricht man nicht von Flüchtlingen - quittieren den Empfang: Mütter mit Kindern bekommen Windeln und Babynahrung, andere erhalten jetzt zum Winter warme Kleidung und Decken, viele bekommen Unterstützung in Form von Lebensmitteln. "Wir versuchen den Bedarf möglichst genau zu ermitteln", erläutert Caritas-Geschäftsführerin Nataliya Kozakevych. "Wer erstmals kommt, mit dem führt unser Team ein Kennenlerngespräch, und es wird ein Fragebogen ausgefüllt. So erfahren wir Wichtiges über die Gesamtsituation der Betroffenen und wie wir konkret materiell helfen können. Hilfsmaterialien gibt es dann - je nach Einzelfall und Notwendigkeit - einmalig oder auch mehrfach."
Klar ist: Die Caritas kann mit Lebensmitteln und Sachgütern nur zur Ersthilfe beitragen. Die betroffenen Menschen müssen sich, wenn sie nicht an ihren Heimatort zurückkehren, in Iwano-Frankiwsk ein neues Leben aufbauen. Aber auch ohne anhaltende Versorgung mit Hilfsgütern ist für die Vertriebenen der Kontakt zur Caritas oft ganz wesentlich, denn sie bietet den Menschen auch psychologische Betreuung an.
Als sie flohen, war Frühling
Iryna Ishcheriakova, Psychologin im Caritas-Team, erläutert: "Bei der Ersterfassung der Personen stellen wir nach Augenschein immer gleich auch fest, ob diese Anzeichen von Stress oder posttraumatischen Störungen zeigen. Wir bieten dann Gespräche an. Oft reicht einfach die emotionale Unterstützung, manchmal folgt eine genauere Diagnostik, um Auslöser festzustellen und Hilfsangebote zu machen - durch individuelle Betreuung oder auch durch gruppentherapeutische Maßnahmen." Auslöser für die Ängste und Verzweiflung sind die Notlagen, in die die Menschen durch ihre Flucht geraten sind. Viele haben einfach alles zurückgelassen, sind überstürzt abgereist, wissen nicht, was von ihrem Haus und Besitz überhaupt noch übrig ist. Winterkleidung haben die wenigsten. Als sie flohen, war es Frühling, und kaum einer glaubte, länger als zwei Monate von zu Hause weg zu sein. Nun muss ein neuer Haushalt aufgebaut, Arbeit gefunden werden. Viele russischsprachige Kinder aus dem Osten müssen in der neuen Schule ganz neu Ukrainisch lernen - die Sprachen klingen zwar ähnlich, aber es sind eben doch zwei Sprachen…
Trost durch Helferin aus der Heimat
Im Caritas-Haus hilft bei der Ausgabe auch Maria Dubrakova, selbst als Vertriebene nach Iwano-Frankiwsk gekommen. Ihre Familie - der Vater ein griechisch-katholischer Pfarrer - musste die Region Donezk aus Sorge um die Sicherheit seiner Familie verlassen. "Für unsere Betreuungsarbeit ist Maria ein Glücksfall", sagt Geschäftsführerin Nataliya, "wenn eine Übersiedlerin hier bei uns mitarbeitet, fassen die Vertriebenen gleich mehr Vertrauen!" Zum Beispiel im Erstgespräch: Besonders alte Menschen sind von ihrer ungeklärten Situation völlig überfordert. Es tröstet, wenn Maria die Orte kennt, aus denen sie stammen, wenn sie auf Geschichten von früher - vor dem Krieg - und auf die aktuellen Fluchtereignisse kenntnisreich und mit Verständnis eingehen kann.
Ungewiss, ob es ein Zurück gibt
Bei der Hilfsgüterausgabe ist für dieses Mal die Arbeit gleich getan. Zwei Familien mit Kindern sind neu eingetroffen: Valja hat ihren kleinen Sohn dabei - für ihn gibt es neben einem Winteranzug und Stiefeln ein Plüschtier, das er gleich in die Arme nimmt. Valja muss im Augenblick allein mit ihrem Kind klarkommen. Der Ehemann ist zum Arbeiten wieder in den Osten zurückgekehrt, nachdem er Frau und Sohn untergebracht wusste. In Iwano-Frankiwsk hat er als Bergmann keinen adäquaten Job gefunden. Ob die Familie insgesamt wieder zurückkehren wolle, wenn Frieden einkehren sollte? Valja zuckt mit den Schultern. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll. Andrej wiederum, der einen Säugling auf dem
Arm trägt und gerade von den Caritas-Helfern ein Paket Windeln überreicht bekam, hat sich entschieden: "Mein Junge wurde vor zwei Monaten hier geboren. Das ist für mich ein Zeichen. Ich habe jetzt für die Familie ein Haus gekauft: Wir bleiben in Iwano-Frankiwsk!"