Papst Franziskus schreibt Klartext
Dass sich im Land der Reformation nach der viel beachteten ökumenischen Sozialinitiative der beiden großen Kirchen aus dem Jahr 1997 erstmals wieder beide Kirchen in einem gemeinsamen Sozialwort1 äußern, ist nicht selbstverständlich. Haben doch in Denkschriften, Erklärungen und Impulstexten unsere Kirchen das seitdem je für sich getan - mehr oder weniger deutlich, aber eben je für sich.
Eindeutig haben sich katholischerseits zu den globalen und sozialen Herausforderungen immer auch die Päpste geäußert, wie jüngst Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium"2. Bevor man jedoch das ökumenische Sozialwort mit dem päpstlichen Schreiben vergleicht, muss man etwas zu den unterschiedlichen Genres und den jeweiligen Anlässen sagen.
Zum Ansatz von Evangelii gaudium
"Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen", so beginnt das Apostolische Schreiben, mit dem Papst Franziskus das Thema der Verkündigung der Frohen Botschaft in der Welt von heute für die Weltkirche entwickelt. Es handelt sich also nicht um ein Sozialwort, sondern um ein Schreiben, das die Freude am Glauben und dessen Glaubwürdigkeit stärken möchte; auch deshalb findet sich ein großer Absatz über die Verkündigung des Evangeliums und über die Vorbereitung auf die Predigt. "Dies ist kein Dokument über soziale Fragen" (184), so der Papst selbst; dazu verweist er auf die Soziallehre der Kirche. Dass zur Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens jedoch die Frage nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit zwingend gehört, unterstreicht er nachhaltig.
Grundlage dieses päpstlichen Schreibens sind die Arbeiten der Weltbischofssynode vom 7. bis 28. Oktober 2012 zum Thema Neuevangelisierung, die noch von Papst Benedikt XVI. einberufen wurde. So will der Papst mit seinem Schreiben vorrangig die Christ(inn)en zu einer neuen Etappe der Evangelisierung einladen.
Papst Franziskus geht in seinem Schreiben auf die unterschiedlichen Dimensionen des Glaubens ein und widmet dann einen Teil seiner Ausführungen dem Zusammenhang von Gerechtigkeit und Menschlichkeit.
"In der Wurzel ungerecht" nennt Papst Franziskus das aktuelle ökonomische System. (59) Diese Form der Wirtschaft töte (vgl. 53), denn in ihr herrsche das Gesetz des Stärkeren. Der Mensch sei nur noch als Konsument gefragt, und wer das nicht leisten könne, der werde nicht mehr nur ausgebeutet, sondern ganz ausgeschlossen, weggeworfen. Diese Kultur des Wegwerfens habe etwas Neues geschaffen: "Die Ausgeschlossenen sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘." (53) Die Welt lebe in einer neuen Tyrannei des "vergötterten Marktes", die manchmal sichtbar, manchmal virtuell sei. Hier regierten die Finanzspekulation, die Korruption und Egoismen, die sich etwa in Steuerhinterziehung ausdrückten. (vgl. 56)
Und dann fordert Papst Franziskus die eigene Kirche zur Sorge um die Schwächsten auf: Die Kirche müsse den "neuen Formen von Armut und Hinfälligkeit - Obdachlosen, den Drogenabhängigen, den Flüchtlingen, den eingeborenen Bevölkerungen, den immer mehr vereinsamten und verlassenen alten Menschen usw." Aufmerksamkeit schenken, außerdem besonders auch den Flüchtlingen. Er ruft zu einer "großherzigen Öffnung auf, die, anstatt die Zerstörung der eigenen Identität zu befürchten, fähig ist, neue kulturelle Synthesen zu schaffen." (210)
Ein brennendes Thema seien auch die neuen Formen der Sklaverei, die unsere Gesellschaft hervorbringe, so der Papst. Es seien diejenigen, die wir jeden Tag umbringen würden durch Arbeit in einer illegalen Fabrik, im Netz der Prostitution, in den zum Betteln missbrauchten Kindern. "Es gibt viele Arten von Mittäterschaft. Die Frage geht alle an! Dieses mafiöse und perverse Verbrechen hat sich in unseren Städten eingenistet, und die Hände vieler triefen von Blut aufgrund einer bequemen, schweigenden Komplizenschaft." (211)
Ansatz des Sozialwortes
Eine ganz andere Genese und der Blick auf die gesellschaftliche Realität in unserem Land liegen dem Sozialwort der Kirchen in Deutschland zugrunde. Wir leben in einem gefestigten Sozialstaat, der auf dem Verständnis sozialer Marktwirtschaft aufbaut. Das Papier wurde im Gegensatz zum Schreiben des Papstes in einem intensiven und teilweise mühsamen Prozess erarbeitet, in dem um konsensuale Formulierungen gerungen werden musste, um zwischen den Verantwortlichen mehrheitsfähig zu werden.
Gleichwohl gelingt es dem Sozialwort, deutlich zu machen, dass unsere Wirtschaftsordnung kein Selbstzweck sein darf, sondern sich am Ziel orientieren muss, Armut zu überwinden und die realen Freiheiten der Menschen zu vergrößern. Das Sozialwort leistet einen Beitrag dazu, im gesellschaftlichen Diskurs die falsche Frontstellung zwischen Ökonomie und Moral zu überwinden. Es gibt nicht auf der einen Seite die Ökonomie und auf der anderen die Moral. Und ebenso wenig können sozial Engagierte der Politik allein die Verantwortung überlassen. Eine Moral, die sich anmaßt, sich außerökonomisch über die Ökonomie erheben zu können, wird nichts bewirken. Daher gilt der sozialethische Maßstab des Sozialwortes den verantwortlichen Akteuren im wirtschaftlichen wie im sozialen Sektor gleichermaßen.
Die Kirchen betonen, dass Teil der sozialen Marktwirtschaft eine Sozial- und Bildungspolitik sein muss, die für alle Bürger(innen) die Voraussetzungen zur gesellschaftlichen Teilhabe schafft. Damit leistet das Sozialwort einen wichtigen Beitrag zur Sozialdebatte. Die Zeiten sind vorbei, in denen Sozial- und Bildungspolitik als zwei getrennte Komplexe betrachtet werden konnten. Das Defizit unseres Sozialstaats liegt nicht in einem Mangel an Hilfen, sondern in seinen Versäumnissen zur Prävention sozialer Notlagen. Dies ist die Folge von Defiziten im Bildungssystem, in der aktiven Arbeitsmarktpolitik für langzeitarbeitslose Menschen, aber auch von Problemen im Hilfesystem selbst.
Abschließende Bewertung beider Schriften
Die öffentlichen Reaktionen auf das neue "Sozialwort" der Kirchen waren gemischt. Waren die Worte des Papstes vor allem den Ökonom(inn)en zu wirtschaftsfeindlich und radikal, war das Sozialwort der Kirchen vielen zu ausgewogen. Die zentrale Aussage des Sozialwortes lautet: Das Modell einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft bietet die besten Chancen, die sozialen und Umweltprobleme auf nationaler, europäischer und globaler Ebene zu lösen. Dieser Appell ist keinesfalls so harmlos wie behauptet. Das gemeinsame Wort ist auch ein wichtiges ökumenisches Signal.3 Blass aber, so der Tenor vieler Kritiker(innen), sind die Sprache des Papiers und der Duktus der Ausgewogenheit: "Das gepflegte Sowohl-als-auch, das sich als Tenor abzeichnet, wird keine Diskussionen anregen, sondern sie einschläfern", so Bernhard Emunds.4 Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Sozialwort als "Impulstext" gedacht ist, der eine Debatte in Gang bringen soll, halte ich diese Kritik allerdings für schwerwiegend.
Genau die gegenteilige Wirkung hatte das Apostolische Schreiben "Evangelii gaudium" mit seiner kraftvollen Sprache. Während das Sozialwort referierend daherkommt und beispielsweise formuliert: "Zugleich dürfen wir aber nicht die Augen davor verschließen, dass nicht alle Menschen in unserem Land an diesem Wohlstand teilhaben. Wie in den meisten OECD-Ländern, so hat auch in Deutschland in den letzten 30 Jahren die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen zugenommen" (S. 20/21), geht es einem vom Kopf in den Bauch, wenn Franziskus schreibt: "Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht." (53)
Viele Ökonomen bei uns sehen seine Aussagen als Angriff auf unsere Marktwirtschaft. Aber Franziskus geißelt trotz aller scharfen Kritik nicht eine geordnete und soziale Marktwirtschaft, sondern er warnt in klaren Worten vor Auswüchsen des Marktes. Wie kann es also gelingen, das grundsätzliche Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft und die scharfe Kritik von Papst Franziskus zusammenzudenken? Zum einen: Die Verantwortung darf nicht an den eigenen Grenzen haltmachen. Schnell war man dabei, die Worte des Papstes zu relativieren und sie allein vor seinem lateinamerikanischen Erfahrungshintergrund gelten zu lassen. "Diese Wirtschaft tötet" - damit meint er eine Wirtschaft, die Leben verhindert - und zwar weltweit. Auch die Art und Weise, wie wir hier in Deutschland wirtschaften, konsumieren und produzieren, hat Auswirkungen auf die Lebensmöglichkeiten von Menschen auf dem ganzen Erdball; und da können wir auch in Deutschland nicht so tun, als wäre unsere Art zu wirtschaften nicht daran beteiligt, so sozial die Marktwirtschaft bei uns auch sein mag.
Zum Zweiten: So effizient Märkte als Mittel zur Sicherung von wirtschaftlichem Wohlstand sind - Märkte selbst sind sozial blind. Nicht blind sein dürfen aber alle, die für die Gestaltung der Märkte Verantwortung tragen und in ihnen agieren. Damit Märkte nicht "töten", brauchen wir Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutz; brauchen Regeln dagegen, Menschen zu übervorteilen, wir brauchen also die verantwortliche Gestaltung der Marktordnung. Was passiert, wenn dieses Grundverständnis fehlt, haben wir in der Finanzmarktkrise gesehen. Und zum Dritten: Auch der Wettbewerb lässt Raum für moralisches Handeln, beispielsweise im Umgang mit Mitarbeitenden, die krank sind oder ihre Angehörigen pflegen wollen. Aber das geschieht eben nicht von sich aus.
Und ein Letztes: Während das Wort unserer Kirchen an manchen Stellen ein wenig "oberlehrerhaft" daherkommt, sagt Papst Franziskus: "Außerdem besitzen weder der Papst noch die Kirche das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit oder für einen Vorschlag zur Lösung der gegenwärtigen Probleme." (184) Das ist wohltuend und lädt ein, die Debatte zu den genannten Themen zu führen und um Lösungen zu ringen.
Anmerkungen
1. Evangelische Kirche in Deutschland und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung. Hannover/ Bonn, 2014. Download unter:
www.sozialinitiative-kirchen.de
2. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 194, Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, Bonn 2013.
Download: http://w2.vatican.va, Suchwort: "Evangelii gaudium deutsch". (Im Beitrag erwähnte Belegstellen: Vgl. die Abschnittsnummern in Klammern.)
3. Vgl. hierzu: Kruip, Gerhard: Impuls für weitere Diskussionen. Kirchen legen neues "Sozialwort" vor. In: Herder-Korrespondenz 68, 4/2014, S. 173-177.
4. Emunds, Bernhard: Interview zum "Sozialwort" im Kölner Stadtanzeiger vom 28.2.2014 unter: www.ksta.de, Suchbegriff "Sozialwort".
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