Inklusion beginnt im Kopf
Ab dem Schuljahr 2014/2015 haben Eltern von Kindern mit Behinderungen in NRW das Recht, ihre Sprösslinge in allgemeinen Schulen (Grund- und weiterführende Schulen) anzumelden. Das sieht das neue Landesschulgesetz vor. Grundlage ist die politisch gewollte Inklusion, das vorbehaltlose Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen. Was bedeutet das für unser Bildungssystem, was tut die Caritas im Ruhrbistum?
Ein Interview mit Martina Lorra (ML) und Hubertus Strippel (HS), Referenten für Kinder- und Jugend- sowie Behindertenhilfe bei der Ruhrcaritas, exklusiv für die Sozialcourage (SC).
SC: Experten sagen, wir brauchen eine neue Bildungsdiskussion. Es geht um grundlegende Veränderungen des Schulsystems, um dem Ziel des vorbehaltlosen Miteinanders von Kindern mit und ohne Behinderung ein Stück näher zu kommen, warum?
HS: Wenn man bedenkt, dass es sich mit der Forderung nach schulischer Inklusion um eine folgerichtige Ableitung aus der UN-Behindertenrechtskonvention handelt, also eines von Deutschland ratifizierten Menschenrechtsdokuments, dann gibt es eigentlich keine Legitimation für eine exklusive Bildung. Wer aber inklusive Bildung will, muss die Frage beantworten, wie die Schule aussehen muss, die genauso geeignet ist für Kinder mit höchsten kognitiven Begabungen wie für Kinder mit Beeinträchtigungen in der Kognition. Das x-fach gegliederte Schulsystem in NRW steht dem diametral entgegen!
ML: Letztendlich muss sich die ganze Pädagogen-Ausbildung ändern, für Schulleitungen, Lehrer und andere pädagogische Fachkräfte. Studiengänge müssen modifiziert werden: Um mit immer bunteren Schülergruppen umzugehen, brauchen wir z.B. eine veränderte Methodik und Didaktik. Alle Beteiligten müssen ein grundständiges Wissen um Behinderung erwerben; es müssen Aspekte eingebracht werden, wie etwa Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS oder mit herausforderndem Verhalten.
SC: Die Caritas im Bistum Essen bietet Inklusionskurse an. Erklären Sie uns, was Sie in Ihren Fortbildungen den Kolleg(inn)en beibringen.
ML: Mit dem geänderten Schulgesetz kommen schon jetzt neue Anforderungen auf die Schulen zu. Unser Grundgedanke ist, die Fachkräfte von Anfang an mit ins Boot zu holen und sie auf die zu erwartenden Veränderungen vorzubereiten. Anliegen unserer Schulung ist es, Lehrer und pädagogische Kräfte dadurch zu stärken, dass wir Informationen weitergeben, fachliche Standards und konkretes Handwerkzeug vermitteln. Wir beantworten Fragen wie: Wie lässt sich eine inklusive, bunte Schulkultur entwickeln? Welche Kinder kommen auf uns zu? Was brauchen wir für sie im Offenen Ganztag und in der Schulsozialarbeit? Die Fachkräfte sollen auch als Multiplikatoren wirken können.
SC: Schulungen allein werden die Anforderung der Inklusion nicht lösen. Wie gehen Sie damit um?
HS: Zuerst einmal sagen wir, dass gemeinsamer Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern ein Gewinn für alle Kinder in der Schule sein kann. Dazu müssen jedoch die notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden - also auch die finanziellen Ressourcen! Darüber hinaus müssen wir endlich eine öffentliche Bildungsdiskussion führen. Wir wissen noch nicht im Detail, wie die Bildungslandschaft aussehen muss, damit sie inklusiv funktioniert. Aber aus unterschiedlichen Modellprojekten haben wir gute Inklusionserfahrungen. Konzepte, die im ganzen Land, also im Ruhrgebiet genauso gut funktionieren wie in einem ost-westfälischen Dorf, haben wir jedoch noch nicht.
SC: Was fordert die Caritas: Mehr Geld für mehr Pädagogen?
HS: … unter anderem. Hinzu kommen die Forderungen nach einer grundsätzlichen Veränderung der Ausbildungssysteme für alle Schulprofis, nach Barrierefreiheit, einer guten sächlichen Ausstattung der Schulen, nach kleineren Lerngruppen - wir brauchen behindertenpädagogisches Know-how in allen Klassen. Dafür könnten wir schon jetzt auf die Erfahrungen zurückgreifen, die wir in Förderschulen gesammelt haben: Formen wie "Teamteaching", also das Unterrichten im Team, kämen allen Kindern zugute. Für Forderungen wie diese gilt es öffentlich einzustehen, denn wir können nicht pädagogisch kompensieren, was politisch versaubeutelt wurde!
SC: Noch einmal zurück zu den Inklusionskursen: Wie sind Ihre konkreten Erfahrungen damit?
ML: Die meisten Kolleg(inn)en machen sich gerade auf den Weg. Bei unseren Schulungen fangen wir daher mit Basics an, wir vermitteln Grundlagenwissen. Dabei betonen wir: Inklusion beginnt im Kopf!
Es geht nicht nur um klassische Behinderungsformen, sondern auch um soziale Auffälligkeiten, mit denen Schule oder damit auch der OGS (Offene Ganztagsschule) konfrontiert sind. In dem Modul "Schülerbesprechungen" vermitteln wir z.B. Methoden der Fallbesprechung, auf deren Grundlage Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern gemindert werden können. Wir sprechen dabei auch über organisatorische Rahmenbedingungen, um dieses Konzept auch umzusetzen.
HS: Die ganze Schulungsidee ist Resultat des Caritas-Kampagnenjahres 2011! Gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen ist das politische Ziel. Im Bereich OGS und Schulsozialarbeit haben wir das exemplarisch aufgenommen und mit den Schulungen zur Inklusion begonnen.
SC: Haben Sie aus der Fortbildungsarbeit eine besondere Erkenntnis gewonnen?
ML: Ja! Dass Spielen eine besondere Bedeutung in unserer Basisschulung für Inklusion hat, denn Lernen und Spielen sind keine Gegensätze! Gute Spiele ergänzen das schulische Bildungsangebot! Spielen ermöglicht in besonderem Maße gemeinsame Lernerfahrungen behinderter und nichtbehinderter Schüler und erweitert ihre Handlungskompetenzen.
(Die Fragen stellte Christoph Grätz)
Hintergrund: Mit dem 9. Schulrechtsänderungsgesetz hat NRW die ersten Schritte auf dem Weg zur inklusiven Bildung an allgemeinen Schulen im Lande gesetzlich verankert. Schülern, die sonderpädagogische Unterstützung brauchen, soll grundsätzlich immer ein Platz an einer allgemeinen Schule angeboten werden. Eltern können jedoch für ihr behindertes Kind auch weiter die Förderschule wählen.
"Spielen und Inklusion"
Im Spiel lernen Kinder fürs Leben. Regelmäßiges Spielen ist für die kindliche Entwicklung von großer Bedeutung und stellt, nach Aussagen des Neurologen Manfred Spitzer, eine sinnreiche, entspannte Abwechslung im Unterricht dar. Kinder sammeln hier wertvolle Erfahrungen, die sie im Alltag nutzen können. Spielen ermöglicht in besonderem Maße gemeinsame Lernerfahrungen behinderter und nichtbehinderter Schülerinnen und Schüler und erweitert Ihre Handlungskompetenzen.
In einer Kombination aus Theorie und Praxis beschäftigen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fortbildungsveranstaltung "Inklusion macht Schule" unter anderem intensiv mit der Bedeutung von Spielen für den gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder. Dabei kommen auch ungewöhnliche Spielmaterialien zum Einsatz. Die Firma PlayMais stellte "Mais-Bausteine" zur Verfügung - ein Spielzeug, dass auf der Basis von Mais, Wasser und Lebensmittelfarben hergestellt wird und in Verbindung mit Wasser vielfältige Spielmöglichkeiten eröffnet.