Die Welt zu Haus am Küchentisch
Ulrike Meier: Fremde werden Freunde
"Ein Problem ist deine Chance dein Bestes zu geben." Für Ulrike Meier hat dieser Satz der Jazzlegende Duke Ellington einen besonderen Stellenwert. Normalerweise gibt die Unternehmensberaterin ihr Bestes für Konzerne und eröffnet ihnen neue Chancen. Als sich in Berlin die Flüchtlingsnot zuspitzt, setzt Ulrike Meier ihre Fähigkeiten anders ein. Bis zu acht syrische Geflüchtete nimmt sie über Nacht in der eigenen Wohnung auf.
"Welchen Beitrag kann ich persönlich leisten?", fragt sie sich und entschließt sich zu einer mehrmonatigen beruflichen Auszeit. Ulrike Meier engagiert sich beim Aufbau einer Flüchtlingsnotunterkunft und ruft den Verein "Freedomus - Hilfe für Flüchtlinge mitten in Berlin" ins Leben. Viel wichtiger als Kuscheltiere oder Kleidersammlungen ist die Zeit für eine Begegnung mit Geflüchteten, findet die Mutter von drei Kindern. "Fremde können Freunde werden", sagt sie. "Das ist die beste Hilfe."
Ausnahmesituationen erfordern schnelle und praktische Lösungen, so Meier. In ihrem Fall kann das bedeuten, dass das heimische Büro und die Kinderzimmer zur Flüchtlingsherberge umfunktioniert werden, Ulrike Meier abends doch noch in den Supermarkt springt, um das Nötigste zu besorgen, und ihr Mann mit den Kindern Betten für Menschen aus Syrien baut. Zu einer Kissenschlacht kommt es aber nur selten. "Wenn wir Unterschlupf geben, dann ist das oft sehr kurzfristig." Die Flüchtlinge, die bei den Meiers unterkommen, sind zumeist Angehörige, Freunde oder Bekannte von Geflüchteten, zu denen bereits ein Kontakt besteht. Oft treffen sie erst spät abends in Berlin ein, "so dass die Kinder nur wenig davon mitbekommen". Die Unterbringung ist keine Dauerlösung, sondern ein Notbehelf für eine Nacht. "Irgendwann wird es eng", sagt Ulrike Meier. "Dann finden wir einen anderen Weg."
Pfarrer Thomas Pfeifroth: "Jammern, das kann’s nicht sein"
"Mitleid allein hilft nicht. Nur zu jammern, das kann‘s nicht sein", sagt Thomas Pfeifroth. Der Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde Bruder Klaus in Berlin-Britz hat im Besprechungsraum der Pfarrei einer aus dem Iran geflohene Christin Zuflucht geboten.
"Es ist so unbefriedigend, die Nachrichten zu schauen und nichts zu machen", sagt Pfarrer Pfeifroth. Nach dem Appell von Papst Franziskus, dass jede Kirchengemeinde Flüchtlinge aufnehmen soll, fasst er einen Entschluss: "Wir müssen wohl zusammenrücken", sagt er zu seiner Pfarrsekretärin Katharina Mücke. "Das kriegen wir hin", ermutigt sie ihn. Wenig später zieht Ghazaleh Bayati in ein Arbeitszimmer der Pfarrei. Die 33-jährige Iranerin ist zum Christentum konvertiert, wird deshalb in ihrer Heimat verfolgt. "Sie kann nicht mehr zurück", weiß Pfarrer Pfeifroth. "Das wäre ihr Todesurteil."
Dass die Geflüchtete gläubig ist, erleichtert manches: Sie wird der Gemeinde vorgestellt und betet mit in der Messe. "Die Religion ist ein guter, gemeinsamer Nenner", so der Pfarrer, "aber nicht entscheidend, wenn es darum geht, einem Menschen in Not zu helfen".. Die gemeinsame Religion kann aber nicht alle Schwierigkeiten in Luft auflösen, so Pfeifroth: "Die Verständigung ist oft nur mit Händen und Füßen möglich." Die größte Sorge ist jedoch eine andere: Aufgrund von Renovierungsarbeiten braucht die Geflüchtete dringend eine neue Bleibe. "Wir haben lange mit Frau Bayati gesucht und gezittert, bevor wir in einer anderen katholischen Kirchengemeinde fündig geworden sind", berichtet der Pfarrer.
Gabriele Pollert: "Aufgeben gilt nicht"
"Wir können nicht die ganze Welt retten, aber doch eine Menge bewegen", sagt Gabriele Pollert. Gemeinsam mit ihrem Mann Georg Pollert hat sie zunächst einen afghanischen Flüchtling aufgenommen. Inzwischen kümmert sich das Ehepaar aus Frohnau um eine ganze Familie.
Alles fängt damit an, dass die Pollerts durch einen Kontakt über die Caritas Nabi Mohammadi kennenlernen. Der 28-Jährige hat als Designer und Dolmetscher für die deutschen Truppen in Afghanistan gearbeitet. Weil er in den Augen der Taliban ein Verräter ist, muss er fliehen. "Außer seiner Kleidung hatte er nichts mehr nach seiner Flucht", sagt Gabriele Pollert.
Als Nabi in die private Gästewohnung einzieht, kümmern sich die Pollerts um ihn. Sie lernen mit ihm Deutsch, nehmen ihn mit zu Bekannten. Vor allem aber kämpfen sie sich mit ihm durch einen Dschungel von Behörden, vom Ausländeramt, Sozialamt bis Arbeitsamt. "Die größte Hürde ist nicht die Sprache und die Begleitung", sagt Gabriele Pollert, "sondern die Bürokratie". "Immer am Ball bleiben, Formulare ausfüllen und Druck machen", sagt Georg Pollert. "Das bringt viel voran, kostet aber auch Zeit und Nerven." Ein Einsatz, der nicht zu unterschätzen ist, zumal die Pollerts nach einiger Zeit nicht mehr allein Nabi helfen, sondern auch dessen Freund sowie seinem Schwager plus Frau und einjährigem Kind. Die Familie wohnt anfangs im Flüchtlingsheim, kommt aber immer häufiger zu den Pollerts, um der Enge zu entfliehen und ein bisschen Freiheit zu erhaschen.
Das, was die Pollerts auf sich nehmen, wird ihnen fast zu viel. Für Hobbys bleibt so gut wie keine Zeit. "Zum Bücherlesen komme ich gar nicht mehr", erzählt Gabriele Pollert. "Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass ich mehr für die Flüchtlinge aktiv bin als für meine berufliche Arbeit."
Besonders schwierig ist die Suche nach einer eigenen Wohnung für die Geflüchteten. Von der Unterbringung in einer Gartenlaube bis zur dramareifen Auseinandersetzung mit einem Vermieter, der die Notlage von Flüchtlingen nur ausbeuten will - die Pollerts müssen mit ihren Schützlingen einiges durchstehen, bevor sie etwas Passendes finden. Nabi versucht nun, seine Frau und seine Kinder aus Afghanistan nachzuholen - drei weitere Geflüchtete, um die sich das Ehepaar sorgen möchte. Dann sind es insgesamt acht. "Einfach wird das nicht", sagt Gabriele Pollert. "Aber aufgeben gilt nicht."
Martin Patzelt: "Jeder tut was er kann und steckt den anderen an"
"Die Flüchtlingskrise lässt sich nur lösen, wenn sich Bürger engagieren", da ist sich Martin Patzelt sicher. Der brandenburgische Bundestagsabgeordnete hat deshalb öffentlich dazu aufgerufen, Geflüchtete zu Hause aufzunehmen. Seit Sommer wohnt der Politiker selbst mit zwei Asylbewerbern aus Eritrea unter einem Dach. "Das Zusammenleben ist ein Gewinn an Lebensqualität", sagt er. Nach einem Gottesdienst gehen die jungen Afrikaner auf den Politiker zu. Sie schildern ihre missliche Lage, bitten um Hilfe. Den Entschluss, den 19-jährigen Haben und den 24-jährigen Awet zu sich zu nehmen, fasst Martin Patzelt gemeinsam mit seiner Frau. "Der Fremde, der in unser Leben tritt, ist nicht nur eine Last und Aufgabe, sondern auch eine Bereicherung", so der Politiker. Bei allem, was die Aufnahme von Geflüchteten abverlangt, so Patzelt, ist die Frage der Toleranz eine ganz entscheidende: "Schaffe ich es aus meinem Schneckenhaus herauszutreten und den anderen so anzunehmen wie er ist?" Erst wenn es gelingt, Verschiedenheiten auszuhalten, so Patzelt, besteht kein Grund zu der Sorge, dass die positiven Seiten übersehen werden könnten.
Niemand in seiner Familie muss noch auf Abenteuerreise gehen, betont er mit einem Augenzwinkern. "Die Welt ist jetzt bei uns zu Hause am Küchentisch."
Integration lässt sich weder per Gesetz verordnen noch über Handbücher vermitteln, so der ehemalige Oberbürgermeister von Frankfurt an der Oder. "Der Staat allein schafft das nicht. Deshalb sind die Bürger gefordert", ist Patzelt überzeugt. "Jeder tut was er kann und steckt den anderen an", lautet seine Devise. "Das aktive Miterleben einer Kultur bietet eine ganz andere Chance", sagt er.
Eine Chance, die genutzt wird. Kaum länger als ein halbes Jahr leben die jungen Männer aus Eritrea jetzt bei den Patzelts im brandenburgischen Dörfchen Briesen. Sie packen im Gemeindezentrum mit an und helfen im Kaufladen. Die Exoten im Dorf - das sind die beiden nicht mehr, sagt Martin Patzelt fast ein bisschen stolz. "Sie gehören zur Dorfgemeinschaft."