Die Menschen hinter dem Zaun
"Muss da noch Zucker dran?", fragt Herr T. "Ich finde nicht", kommt als Antwort von Herrn K. "Ein bisschen Zitronensäure könnte noch passen", löst Uwe Holtgreve das Problem. Schließlich soll die Erdbeer-Quark-Torte auch den anderen Patienten schmecken. Die drei Männer bilden zusammen einen Kochkurs der besonderen Art. Denn beim Blick aus dem Küchenfenster sieht man vor allem einen fünf Meter hohen Zaun mit Stacheldraht und zahlreichen Kameras. Und einer der drei ist seit fast fünf Jahren einmal die Woche freiwillig, als Ehrenamtlicher hier: Uwe Holtgreve.
In der forensischen Christophorusklinik im Münsteraner Stadtteil Amelsbüren sitzen Menschen ein, die nur vermindert schuldfähig sind. Die Einrichtung hat sich vor allem auf intelligenzgeminderte Personen spezialisiert. "Unsere Patienten haben schwerste Straftaten begangen. Körperverletzung, Vergewaltigung, Mord", zählt der Ärztliche Leiter Professor Dr. Dieter Seifert auf.
Angstgefühle? Bisher nicht
Uwe Holtgreve ficht das nicht unbedingt an: "Am liebsten hätte ich gar nicht gewusst, was die Patienten verbrochen haben." Aber sein Anleiter habe ihm die Patientenakten zum Lesen in die Hand gedrückt. "Wir machen das aus Sicherheitsgründen. So können sich die Ehrenamtlichen auf eventuell gefährliche Situationen einstellen", erklärt Dieter Seifert. "Bis heute gab es nicht eine Situation, in der ich mich bedroht gefühlt habe", sagt Uwe Holtgreve. Das könnte mit seiner Erscheinung zu tun haben: Mit seinen knapp 1,90 Meter strahlt der Brillenträger westfälische Gelassenheit aus. In seinem früheren Leben war er fast zwei Jahrzehnte Küchenchef in Hotels und Großküchen. Doch warum wählte er sich für sein allererstes Ehrenamt ausgerechnet die "schweren Jungs" aus? Zunächst ist da die räumliche Nähe. Unmittelbar neben der Christophorusklinik arbeitet Holtgreve in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Beide Einrichtungen gehören zur Alexianer-Holding. Beruflich ist er sich treu geblieben: Er bringt Menschen das Kochen bei. "Früher Azubis, heute Menschen mit Behinderung", erzählt Holtgreve. Nach Feierabend ein kurzer Fußweg, und es kann in der Therapieküche der Klinik weitergehen.
Zudem trieb ihn eine gewisse Faszination zu seinem Engagement. "Natürlich war das geheimnisvoll. Ich wollte wissen, wer die Menschen hinter dem Zaun sind." Sein erster Besuch 2012 war beklemmend: die peniblen Kontrollen am Eingang, der hohe Zaun und die vielen Kameras. Nach und nach stellte sich auch hier Routine ein. "Natürlich waren die Patienten am Anfang zurückhaltender, aber das hat sich schnell gegeben."
Schließlich hat man ja gemeinsame Themen. Die Begrüßung per Handschlag ist gerade vorüber, da wird sofort über Fußball diskutiert. Am Abend spielt Schalke 04 und die drei Männer tauschen Tipps für das Spielergebnis aus. "Über Fußball reden wir oft. Viele der Patienten schlafen ja in Vereinsbettwäsche", sagt Holtgreve. Dann wird gearbeitet: Einer schneidet Erdbeeren, der andere kümmert sich um die Quarkcreme. Beide Patienten sind routiniert und brauchen nur wenig Anleitung durch den gelernten Koch Holtgreve. Bei vielen intelligenzgeminderten Patienten der Christophorusklinik sieht das anders aus: "Manche können nicht mal mit einem Schälmesser richtig umgehen. Da muss ich ganz von vorne anfangen", erzählt Holtgreve.
Mancher kann kein Obst schälen
Trotz dieser Schwierigkeiten profitieren beide Seiten. "Ich habe hier Spaß und für die Patienten ist es eine Abwechslung vom oft tristen Alltag", findet Holtgreve. Darum ist noch kein Teilnehmer gegenüber Holtgreve aggressiv geworden. Für den betroffenen Patienten wäre es dann aus mit der leckeren Abwechslung.
"Ein wichtiger Baustein unseres Therapiekonzeptes ist die Tagesstrukturierung. Mit anderen Worten: Wir setzen den Patienten ein festes Regelwerk vor, gegen das sie nicht verstoßen dürfen", macht Dieter Seifert klar. Diese Regeln müssten auch von den Ehrenamtlichen mitgetragen werden. "Die Beete auf unserem Gelände dürfen beispielsweise nicht einfach so betreten werden. Wenn der Ehrenamtliche es den Patienten aber erlaubt, haben wir eine Aufweichung der Regeln", nennt Seifert ein Beispiel, das nur auf den ersten Blick kleinlich erscheint. Die Logik dahinter: Fällt in den Augen der Patienten eine Regel weg, sehen sie sich nicht mehr gezwungen, andere Regeln einzuhalten. Das kann gravierende Folgen in der Therapie haben.
Zurück in die Küche: Die Torten sind fertigt. Die beiden Patienten verabschieden sich mit Handschlag. Für Uwe Holtgreve geht es jetzt heim zur Familie. Die steht hinter seinem Ehrenamt, sonst hängt er es aber nicht an die große Glocke. "Bekannte reagieren manchmal entsetzt. Sie wollen vor allem wissen, was hier für Menschen leben." Dennoch steht er zu seinem speziellen Ehrenamt. "Eigentlich ist es hier ganz schön. Wenn der Zaun nicht wäre."