Die Rechte der Schwerbehindertenvertretung werden gestärkt
Im Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz - BTHG) hat der Gesetzgeber die Stellung der Schwerbehindertenvertretung erheblich gestärkt. Die Vorschriften gelten bereits seit dem 30. Dezember 2016. Die wichtigsten Neuerungen sollen hier für die Praxis zusammengefasst dargestellt werden.1
Neue gesetzliche Reihenfolge
Die gesetzlichen Änderungen erfolgen zunächst in den bereits bekannten Vorschriften der §§?85 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) IX. Allerdings hat der Gesetzgeber ab dem 1. Januar 2018 auch die gesetzliche Reihenfolge geändert. Das Schwerbehindertenarbeitsrecht wird dann mit bislang unverändertem Inhalt in den §§ 151 ff. SGB IX enthalten sein.
Neue Freistellungsstaffel
Die Freistellungsstaffel des § 96 SGB IX ist von 200 auf 100 herabgesetzt worden. Sind also in einem Betrieb in der Regel wenigstens 100 schwerbehinderte Menschen beschäftigt, ist die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen vollständig von der Arbeit freizustellen. Es gilt dabei der arbeitsrechtliche Betriebsbegriff, so dass auch Gemeinschaftsbetriebe von der Regelung betroffen sind. Zu den schwerbehinderten Menschen gehören auch die Gleichgestellten2, § 68 Abs. 3 SGB IX.
Schulung von Stellvertretern
Verbessert worden ist auch die Rechtsstellung der stellvertretenden Mitglieder der Schwerbehindertenvertretung durch einen erweiterten Schulungsanspruch. Die Neuregelung des § 96 Abs. 4 Satz 3 SGB IX gewährt nunmehr dem/der ersten Stellvertreter(in) als auch allen herangezogenen Stellvertreter(inne)n einen Anspruch auf Teilnahme an den erforderlichen Schulungsveranstaltungen. Die Kosten hat der Arbeitgeber nach § 96 Abs. 8 Satz 2 SGB IX zu tragen. Maßstab ist und bleibt aber die Erforderlichkeit der Schulung. Diese muss weiterhin vom Amtsträger dargelegt werden.
Anspruch auf eine Bürokraft
Im Bereich der Betriebsverfassung hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat nach § 40 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) in erforderlichem Umfang auch Büropersonal zur Verfügung zu stellen.3 Eine entsprechende Vorschrift gab es bislang für die Schwerbehindertenvertretung nicht. Der Arbeitgeber hat nun auch in erforderlichem Umfang die Kosten für eine Bürokraft für die Schwerbehindertenvertretung zu tragen, § 96 Abs. 8 SGB IX. Maßstab ist auch hier die Erforderlichkeit, die von der Schwerbehindertenvertretung dargelegt werden muss. Dies wird vom Umfang der Tätigkeit und auch von der Größe des Betriebes abhängen. Hier kann auf die Grundsätze aus der Betriebsverfassung zurückgegriffen werden.
Beteiligungspflicht bei Kündigungen
Der Arbeitgeber hatte schon bislang die Schwerbehindertenvertretung vor Ausspruch einer Kündigung nach § 95 Abs. 2 SGB IX zu beteiligen. Allerdings gab es keine der Betriebsverfassung entsprechende Regelung, wonach Kündigungen ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung unwirksam sind (vgl. § 102 BetrVG4).
Dies hat sich nun geändert. Kündigungen schwerbehinderter Menschen sind nunmehr nach § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX neue Fassung unwirksam, wenn der Arbeitgeber das Beteiligungsrecht nicht beachtet. Die Beteiligung gilt für alle Kündigungsarten, also nicht nur für die ordentliche Kündigung, sondern auch für fristlose Kündigungen oder Änderungskündigungen. Die Beteiligungspflicht ist dabei unabhängig von der Geltung des Kündigungsschutzgesetzes. Sie greift daher auch in der Wartezeit oder Probezeit und gilt auch im Kleinbetrieb, wobei dort selten eine Schwerbehindertenvertretung gewählt sein wird.
Die Beteiligungspflicht der Schwerbehindertenvertretung greift unabhängig von der Zustimmungspflicht des Integrationsamtes. So besteht zum Beispiel keine Pflicht, das Integrationsamt bei Kündigungen innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses zu beteiligen, § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX. Diese Vorschrift bezieht sich aber nicht auf die Rechte der Schwerbehindertenvertretung.
Kündigung: Zeitpunkt der Unterrichtung
Erforderlich ist nach § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX eine unverzügliche Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung. Unklar ist aber, was damit gemeint ist. Muss der Arbeitgeber das Integrationsamt ohnehin beteiligen, hat er ein Wahlrecht. Er kann zunächst das Integrationsamt beteiligen und dessen Entscheidung abwarten. Wird die Zustimmung erteilt, kann dann die Schwerbehindertenvertretung und auch ein etwaig gebildeter Betriebsrat unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Zögern, beteiligt werden. Der Arbeitgeber kann aber auch umgekehrt vorgehen und zunächst Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung anhören und erst dann das Integrationsamt um Zustimmung ersuchen.
Inhalt der Unterrichtung offen
Zum Inhalt der Unterrichtung gibt das Gesetz ebenfalls keine Vorgaben. Hier sollte man sich an den Grundsätzen orientieren, die zur Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG entwickelt worden sind. Zwar lässt sich nachvollziehen, dass gegenüber der Schwerbehindertenvertretung nur solche Gründe benannt werden müssen, die mit der Schwerbehinderung in einem Zusammenhang stehen. Eine solche Beschränkung ergibt sich aber aus dem Gesetzeswortlaut nicht, so dass der Arbeitgeber bis zu einer anderslautenden Rechtsprechung gut beraten ist, der Schwerbehindertenvertretung sämtliche Kündigungsgründe mitzuteilen.
Keine Formvorgaben
Eine besondere Form für die Unterrichtung sieht die Neuregelung nicht vor. Die Schwerbehindertenvertretung kann daher sogar mündlich informiert werden. Aus Beweisgründen sollte man aber, wie beim Betriebsrat, die Schwerbehindertenvertretung schriftlich anhören. Auch hier kann man sich an den Grundsätzen orientieren, die für die Betriebsratsanhörung gelten.
Fristen setzen ist sinnvoll
Anders als im BetrVG sieht das SGB IX keine Fristen vor. Vor allem besteht keine Frist, innerhalb derer die Schwerbehindertenvertretung eine Stellungnahme abgeben muss. Der Praxis ist daher bis zu einer anderslautenden Rechtsprechung dringend zu empfehlen, der Schwerbehindertenvertretung Fristen zu setzen, um Rechtsnachteile zu vermeiden. Dabei sollte man sich an den Fristen des § 102 BetrVG orientieren, also die Dreitagesfrist für eine fristlose Kündigung und die Wochenfrist für die ordentliche Kündigung.
Mit einer solchen konkreten Fristsetzung werden dann auch Unklarheiten vermieden, ob die Schwer-
behindertenvertretung noch eine Stellungnahme abgibt.
Mitteilung der Entscheidung nach Anhörung
Der Arbeitgeber sollte der Schwerbehindertenvertretung seine endgültige Entscheidung nach Abschluss des Anhörungsverfahrens nochmals mitteilen. Zwar ist der Arbeitgeber im Rahmen des Verfahrens frei, die Kündigung trotz eines Widerspruchs der Schwerbehindertenvertretung auszusprechen. Dennoch hat er nach § 95 Abs. 2 SGB IX die von ihm getroffene Entscheidung der Schwerbehindertenvertretung unverzüglich mitzuteilen.
Die Rechtsfolgen
Beachtet der Arbeitgeber die neue Beteiligungspflicht bei Kündigungen nicht, ist die Kündigung unwirksam. Die Geltendmachung dieses Unwirksamkeitsgrundes muss, wie für die Kündigung im Übrigen, im Gerichtsverfahren erfolgen. Die Klagefrist beträgt drei Wochen, § 4 Kündigungsschutzgesetz (KSchG).
Die Neuregelungen im Schwerbehindertenarbeitsrecht stärken die Rechte der Schwerbehindertenvertretung erheblich. Arbeitgeber müssen insbesondere auf die neue Beteiligungspflicht bei Kündigungen achten. Kündigungen, die ohne vorherige Anhörung der Schwerbehindertenvertretung ausgesprochen werden, sind unheilbar unwirksam. Die Arbeitgeber sind daher gut beraten, sich mit den Neuregelungen zu befassen und die neuen Vorschriften zur Vermeidung von Rechtsnachteilen anzuwenden.
Anmerkungen
1. Zuerst abgedruckt und mit Anmerkungen von Olaf Wittemann versehen in: "Infomail 15", 2017, Dienstnehmervertreter der Diözese Köln in der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes.
2. Schwerbehinderte Menschen im Sinne des SGB IX sind Personen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50. Den schwerbehinderten Menschen sollen auf Antrag der Arbeitsagentur Personen mit einem GdB von mindestens 30 gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung keinen geeigneten Arbeitsplatz finden oder ihren Arbeitsplatz nicht behalten können. Die Gleichstellung bezieht sich nicht auf den Zusatzurlaub, aber auf den Kündigungsschutz.
3. Entspricht den Regelungen in § 17 Abs. 2 der Mitarbeitervertretungsordnung (MAVO).
4. Analog §§ 30 und 31 MAVO.
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