Wachstum neu denken
Das T-Shirt für 1,99 Euro, das Kilo Schweinefleisch für 4,99 Euro oder der Flug nach Mallorca ab 29,99 Euro - sind das Schnäppchen oder ist das ein Problem? In Zeiten galoppierender Inflation sind solche Angebote für nicht wenige entlastend. Dennoch bleiben bei genauerer Betrachtung Zweifel: Inwieweit ist unser Konsum weltweit verallgemeinerbar? Und steigern immer mehr Konsum, Preiswettbewerb und Wirtschaftswachstum tatsächlich Wohlergehen und Lebensqualität, oder schaffen sie nur kurzfristig mehr Zufriedenheit - zumal, wenn die wahren Kosten dafür offensichtlich auf andere abgewälzt werden?
Damit ist die Rolle von Wirtschaftswachstum für nachhaltige Entwicklung zu klären, wozu die Sachverständigengruppe Weltwirtschaft und Sozialethik (SWS) der Deutschen Bischofskonferenz bereits im Jahr 2018 eine Studie mit dem Titel "Raus aus der Wachstumsgesellschaft?"1 vorgelegt hat. Diese knüpft an die Enzyklika "Laudato si’" von Papst Franziskus aus dem Jahr 2015 an, in der dieser auf eine umfassende Problemanalyse und eine neue Idee von Fortschritt drängt, damit "unser gemeinsames Haus" eine Zukunft hat (siehe dazu neue caritas Heft 13/2016, S. 9 ff.). Mit der 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung und ihren 17 Nachhaltigkeitszielen (17 Sustainable Development Goals, SDGs)2 hat die internationale Staatengemeinschaft diesen Impuls kurz danach aufgegriffen und sich dazu verpflichtet, gemeinsam für alle jetzigen und zukünftigen Menschen eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.
Nachhaltige Entwicklung -orientiert am Gemeinwohl
Die einzelnen Staaten stehen in der Verantwortung, die SDGs konkret umzusetzen. Bis heute ist aber nicht hinreichend geklärt, wie Zielkonflikte zwischen Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Entwicklung gelöst werden können. Die genannte Studie der Sachverständigengruppe Weltwirtschaft und Sozialethik hat dafür eine Orientierung vorgelegt, in der sie das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ausgehend vom Prinzip des Gemeinwohls präzisiert. In den Blick zu nehmen sind vor allem diejenigen, deren Wohlergehen am ehesten gefährdet ist: die Armen und Ausgegrenzten, aber auch zukünftige Generationen. Das Wohl ist zudem umfassend zu verstehen. Es geht nicht allein um materiellen Wohlstand, sondern um Gesundheit, Bildung und Kultur, sozialen Zusammenhalt und gelingende Beziehungen zu Mitmenschen und der Natur.
Nach der kirchlichen Soziallehre - übrigens auch nach dem deutschen Grundgesetz - steht jedes Eigentum an Gütern unter
dem Vorbehalt der Sozialpflichtigkeit. Eng mit dem Gemeinwohl verknüpft ist der Grundsatz der gemeinsamen Bestimmung der Erdengüter, der in der Enzyklika "Laudato si’" konsequenterweise auf alle natürlichen Ressourcen und erstmals in der Soziallehre der Kirche auch auf die Erdatmosphäre und andere CO2‐Senken wie tropische Regenwälder oder Ozeane bezogen wird. Danach sind diese Güter beziehungsweise der daraus erwachsene Nutzen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu verteilen. Damit wird das Handeln derjenigen delegitimiert, die sich nach dem Recht des Stärkeren unrechtmäßig einen unverhältnismäßig größeren Anteil an der Nutzung dieser Güter sichern.
Die verschiedenen Dimensionen nachhaltiger Entwicklung stehen damit nicht einfach nebeneinander, sondern beziehen sich auf unterschiedliche Ebenen und Kategorien: Letztliches Ziel von Entwicklung ist die Freiheit zu einem menschenwürdigen Leben für alle. Die ökonomische Dimension verweist auf die dafür notwendigen wirtschaftlichen Voraussetzungen und stellt ein notwendiges Mittel und Medium fürEntwicklung dar. Die ökologische Dimension schließlich verweist auf die natürliche Basis und die - auch von Kultur, sozialer Organisation und Technologie mitbestimmten - natürlichen Grenzen von Entwicklung.
Grünes Wachstum als Illusion?
Folgerichtig greift die wachstumskritische Bewegung ein verbreitetes Unbehagen an einer Wirtschaftspolitik auf, die auf Wirtschaftswachstum fixiert ist, ohne die damit verbundenen ökologischen und sozialen Folgen ausreichend zu berücksichtigen. Viele erachten den Weg, Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit durch technische Effizienz und "Grünes Wachstum" miteinander zu versöhnen, als illusorisch. Auf diese Möglichkeit setzen unter anderem auch die SDGs. Man will damit weltweit weiteres Wirtschaftswachstum ohne höheren Ressourcenverbrauch und ohne mehr Umweltbelastung erreichen.
Aber lassen sich Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit über "Grünes Wachstum" so einfach versöhnen? Die Wachstumskritik verwirft diese Vorstellung mit dem Hinweis darauf, dass es bisher niemals gelungen ist, weltweit Wirtschaftswachstum von mehr Ressourcenverbrauch und Schadstoffemissionen zu entkoppeln. Zuletzt ist die Menge an emittiertem CO2 pro Einheit der Energiegewinnung und des Bruttoinlandsprodukts (Kohlenstoffintensität) weltweit sogar wieder deutlich angestiegen, denn seit den 2000er-Jahren setzen viele Schwellen- und Entwicklungsländer für ihre Energieversorgung vor allem auf die kostengünstige Kohle.
Dabei sollte man jedoch zwei wichtige Aspekte nicht übersehen: Erstens folgt aus der Tatsache, dass eine globale Entkopplung von Ressourcenverbrauch (und Emissionsausstoß) und Wirtschaftswachstum bisher nicht möglich war (und nicht umfassend versucht wurde), nicht, dass dies bei geeigneten Rahmenbedingungen zukünftig nicht möglich wäre. Wenn die ökologischen und sozialen Kosten, die Produktion und Konsum erzeugen, den Verursachern zugerechnet und nicht weiter auf Dritte - besonders auf nachfolgende Generationen - abgewälzt werden (Externalisierung von Kosten), würde dies erhebliche Anreize für eine effizientere Nutzung von Energie und Ressourcen sowie eine Senkung der Kohlenstoffintensität (Menge an emittiertem CO2 pro Einheit des Bruttoinlandsprodukts) schaffen.
Zweitens übersehen Wachstumskritiker:innen, dass die Kohlenstoffintensität auch bei einer schrumpfenden oder stagnierenden Wirtschaft erheblich zu senken wäre. Es spricht einiges dafür, dies leichter mit einer innovativeren und dynamischen als einer schrumpfenden oder stagnierenden Wirtschaft zu erreichen. Voraussetzung dafür sind allerdings auch hier Ordnungsstrukturen, die den Umweltgebrauch mit einem verursachergerechten Preis belegen. Solche Rahmenbedingungen braucht es auch, um die Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten im Zuge globaler Standortverlagerungen zu beenden und menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu sichern. Die bislang unternommenen Schritte hin zu gerechterem, regelbasiertem Handel, menschenwürdigeren Arbeitsbedingungen und vor allem einer ökologischen Modernisierung weltweit sind gegenwärtig jedoch ganz und gar unzureichend.
Sozial-ökologische Transformation statt Wachstumsverzicht
Deshalb spricht die SWS sich für einen grundlegenden Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft durch eine sozial-ökologische Modernisierung aus, für die in einer Nachfolgestudie drei entscheidende Elemente skizziert werden.3
◆ Unerlässlich sind umfassende Strukturreformen, die bessere Anreize für mehr Effizienz und technologische Innovationen geben. Ein Schlüssel dafür sind angemessene, verursachergerechte Preissignale für Umweltnutzung und Schadstoffausstoß, die damit wesentlich wirksamer und effizienter gemindert werden können als durch Verbote mit zahllosen Ausnahmeregelungen. Eine einheitliche CO2-Bepreisung, die auch den Verkehrssektor und den Konsum einbezieht, kann durch Klimazertifikate oder eine CO2-Abgabe erreicht werden.
◆ Der tiefgreifende Transformationsprozess wird mit beachtlichen Verteilungseffekten verbunden sein, wenn bestimmte Wirtschaftssektoren schrumpfen oder ärmere Haushalte besonders belastet werden. Sie müssten dann einen noch größeren Teil ihres Einkommens für energie- und emissionsintensive Güter aufwenden. Daher ist der Strukturwandel durch Förderung von Innovationen für besonders betroffene Regionen und eine aktive Beschäftigungspolitik zu begleiten. Mehrbelastungen für Haushalte mit niedrigem Einkommen und Vermögen sind durch geeignete Schritte sozialverträglich abzufedern. Gleichzeitig ist eine Bepreisung von Umweltgebrauch wie von Schadstoffemissionen international über CO2-Mindestpreise abzustimmen, um sich gegenüber "Trittbrettfahrern" abzusichern, ergänzt durch Investitionsförderung. Insbesondere ärmere Länder, in denen der größte Investitionsbedarf und das kostengünstigste Anwendungspotenzial für regenerative Energien bestehen, müssen durch Finanzierungshilfen und partnerschaftliche Zusammenarbeit befähigt werden, diese Technologien flächendeckend anzuwenden und selbst (weiter) zu entwickeln.
◆ Die genannten Reformen einer sozial-ökologischen Transformation müssen von einem tiefergreifenden Kultur-, Bewusstseins- und Wertewandel vorbereitet, ergänzt und begleitet werden. Dafür steht die Leitidee der Suffizienz, die ein gutes Leben nicht vom "Immer-mehr-und-billiger", sondern von der Tugend des rechten Maßes her versteht und gerade auch die "unbezahlbaren" Dinge wertschätzt. Das Erleben der Natur, die Sorge um Familienangehörige und bedürftige Mitmenschen, der Einsatz für Kultur und das Engagement für Ideale wie Mitmenschlichkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt sind nicht in Geld aufzuwiegen - und doch Grundlage für sozialen Zusammenhalt und breitenwirksamen wirtschaftlichen Wohlstand. Letzterer wird künftig aber stärker von einem Wert- statt von einem reinen Mengenwachstum bestimmt sein.
Die Politik muss Anreize setzen
Die Politik ist aufgerufen, diesen Bewusstseinswandel zu unterstützen: Anbieter brauchen geeignete Anreize, langlebigere und wiederverwendbare Produkte herzustellen, Verbraucher:innen müssen durch einfache und transparente Qualitäts- und Herkunftssiegel mehr Entscheidungsspielraum erhalten, die Infrastruktur für umweltfreundlichen Nah- und Fernverkehr muss deutlich ausgebaut werden, um suffiziente Lebensstile attraktiver zu machen. Zudem sind auch Leitbilder so zu verändern, dass sie nachhaltige Entwicklung befördern, wie etwa ein anderes Verständnis von Wohlstand als Lebensqualität mit entsprechend anderen Indikatoren. Dann haben Sektoren, die positiv mit Wohlergehen und Lebensqualität korreliert sind, ein Potenzial für Wachstum, das nachhaltige Entwicklung mitbefördert.
Anmerkungen
1. Wissenschaftliche Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Raus aus der Wachstumsgesellschaft? Studien der Sachverständigengruppe "Weltwirtschaft und Sozialethik", Bd. 21, Bonn, 2018, Kurzlink: https://bit.ly/3xqbHFR
2. 17 Nachhaltigkeitsziele, siehe Kurzlink: https://bit.ly/3y1PSyd
3. Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Wie sozial-ökologische Transformation gelingen kann. Studien der Sachverständigengruppe "Weltwirtschaft und Sozialethik", Bd. 22, Bonn, 2021. Kurzlink: https://bit.ly/3xMXtzg
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