Flüchtlingsschutz ist originäre Aufgabe eines humanen Europa
Der starke Zustrom von Flüchtlingen und Migrant(inn)en in die Europäische Union (EU) in den Jahren 2015 und 2016 markiert eine Zäsur in der gemeinsamen Flüchtlingspolitik. Vor dem Hintergrund erstarkender populistischer politischer Strömungen und zunehmender Ressentiments gegenüber Flüchtlingen und Migrant(inn)en in zahlreichen Mitgliedstaaten wurde auf Ebene der Europäischen Union und auf nationaler Ebene der Mitgliedstaaten vielfältig reagiert. Ein Teil der Anstrengungen richtet sich darauf, zu regeln, ob überhaupt und unter welchen Umständen migrierende Menschen das europäische Territorium betreten dürfen, um damit die Zugangszahlen zu verringern und gleichzeitig "wirklich" Schutzbedürftige aus den gemischten Gruppen von Migrant(inn)en herauszufiltern. Andere Bemühungen zielen darauf ab, zu klären wo, also in welchem Mitgliedstaat, Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden sollen und wo sich die Antragsteller(innen) für die Dauer des Verfahrens aufhalten sollen.
All den Reaktionen ist gemein, dass sie das Ziel verfolgen, die staatliche Kontrolle über Flucht- und Migrationsbewegungen in die EU (wieder) zu erlangen und dies gegenüber den Unionsbürger(inne)n auch zu demonstrieren. Die Folge dieser Ausrichtung der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten ist, dass eine zunächst schleichende Entwicklung in der Europäischen Flüchtlingspolitik in Gang gesetzt wurde, die zwischenzeitlich erstarkt. Dies markiert zwar keine grundsätzlich neue Vorgehensweise, ist aber gekennzeichnet durch eine neue Dimension in der Umsetzung und Verankerung von Maßnahmen: die Externalisierung der europäischen Flüchtlingspolitik, also die Verlagerung der Verantwortung für den Flüchtlingsschutz auf andere Staaten.
Unter diese Entwicklung fallen im weiteren Sinne innerhalb der EU die Einführung von Binnengrenzkontrollen einzelner Mitgliedstaaten zur Verhinderung von Sekundärwanderungen oder die Schließung von Grenzen der Mitgliedstaaten entlang der sogenannten Balkanroute, die dazu führte, dass nahezu keine Flüchtlinge mehr Zugang in die Europäische Union erhielten. Auch das Errichten sogenannter Hotspots in Italien und Griechenland, mittels derer Schutzsuchende und Migrant(inn)en zunächst an den Außengrenzen der EU zurückgehalten werden, bewegt sich in diesem Rahmen. Von dort sollen sie nach einer ersten Überprüfung entweder wieder in einen Staat außerhalb der EU rückgeführt oder in das nationale Verfahren des ersten Einreisestaats überführt werden, der gemäß der sogenannten Dublin-III-Verordnung für das Asylverfahren zuständig ist.
Auf andere Staaten zu verteilen war nicht erfolgreich
Versucht wurde auch ein Umverteilungsmechanismus ("relocation"), der die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen, insbesondere Griechenland und Italien entlasten sollte: Schutzsuchende sollten in andere EU-Mitgliedstaaten verteilt werden, um dort das Asylverfahren durchzuführen. Diese Vorgehensweise hatte allerdings nur begrenzt Erfolg, weil sich für viele umzusiedelnde Menschen kein aufnahmewilliger Mitgliedstaat finden ließ - gleichsam Ausdruck der Tendenz, die eigenen Zugangszahlen zu minimieren.
Von zentraler Bedeutung für die Externalisierungstendenzen der EU sind jedoch die Entscheidungen, die hinsichtlich der Einbeziehung von Drittstaaten getroffen werden, um eine europäische Migrationssteuerung auszuweiten. Im Zentrum steht dabei die gemeinsame Erklärung der EU-Mitgliedstaaten mit der Türkei (sogenannter EU-Türkei-Deal). Sie besagt, dass alle irregulären Migrant(inn)en, die seit dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangt sind, in die Türkei rückgeführt werden. Wird ein Asylantrag gestellt, wird dieser von den griechischen Behörden gemäß der EU-Asylverfahrensrichtlinie auf Einzelfallbasis bearbeitet. Migrant(inn)en, die kein Asyl geltend machen oder deren Antrag als unbegründet oder unzulässig abgelehnt wird, werden in die Türkei rückgeführt.
Kein Garant für Menschenrechte
Brisanz erhält diese Regelung dadurch, dass das oberste Verwaltungsgericht Griechenlands zwischenzeitlich die Türkei als sicheren Drittstaat anerkannt hat, und das, obwohl die Türkei der Genfer Flüchtlingskonvention nur mit einem geografischen Vorbehalt beigetreten ist, also nur Flüchtlingen aus Europa den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt, und die innenpolitische Entwicklung des Landes einen offenkundigen Abbau bei der Garantie von Rechtsstaatlichkeit und bei der Gewährung von Grund- und Menschenrechten erkennen lässt.
Das bedeutet nunmehr, dass es nach der EU-Asylverfahrensrichtlinie im Ermessen Griechenlands steht, Asylantragsteller ohne inhaltliche Prüfung der Schutzgründe in die Türkei zurückzusenden, da die Türkei in Griechenland als sicher betrachtet wird und damit der Schutzantrag in Griechenland unzulässig wäre.1 Dies, obwohl ein umfassender Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention und damit das Schutzniveau, das in der EU gilt, in der Türkei nicht in jedem Falle vollumfänglich gewährleistet ist.
Noch bedeutungsvoller wird die gemeinsame Erklärung der EU-Mitgliedstaaten mit der Türkei dadurch, dass nach den Vorstellungen der EU-Kommission bei der Neugestaltung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) künftig verpflichtend zunächst in einer Vorprüfung ermittelt werden soll, ob der/die Asylantragsteller(in) aus einem sogenannten sicheren Drittstaat eingereist ist. Wenn dies der Fall wäre, dürfte ein EU-Mitgliedstaat künftig nach Auffassung der EU-Kommission keine Schutzgründe mehr prüfen. Für Griechenland hieße das, dass jede(r) Asylantragsteller(in) definitiv in die Türkei rücküberstellt werden müsste und damit in der EU keine Aussicht auf Prüfung seiner Verfolgungsgründe und auf Schutzzuerkennung mehr hätte. Die Verantwortung hinsichtlich der Schutzgewährung läge dann bei der Türkei.
Dass die gemeinsame Erklärung der EU-Mitgliedstaaten mit der Türkei als Vorlage für eine neue Architektur der europäischen Flüchtlingspolitik dienen soll, wird auch daran deutlich, dass bereits in der gemeinsamen Erklärung mit der Türkei die Verknüpfung mit der Neuansiedlung von Flüchtlingen in der EU vorgesehen ist. So wird für jeden von den griechischen Inseln in die Türkei rückgeführten Syrer ein anderer Syrer aus der Türkei in der EU neu angesiedelt. Über die Neuansiedlung, das sogenannte Resettlement, wurde hier ein Kontrollinstrument geschaffen, dem gegenüber dem individuellen Flüchtlingsschutz durch Spontaneinreise der Vorzug eingeräumt wird (siehe zu Resettlement auch den Artikel von Patricia Reineck in neue caritas Heft 7/2018, S. 34).
Resettlement als Kontrollinstrument
Der Vorschlag der EU-Kommission zu einem neuen europäischen Neuansiedlungsrahmen ("Resettlement-Framework") im Hinblick auf die Neugestaltung des Europäischen Asylsystems macht deutlich, dass dieser Gedanke der Nutzung des Resettlements als Kontrollinstrument zum allgemeinen Prinzip erhoben werden soll. Mehr noch, Resettlement soll künftig nur noch aus Staaten möglich sein, die Maßnahmen der Migrationskontrolle nach den Vorstellungen der EU ergreifen. Dies bedeutet aber auch, dass aus Drittstaaten, die nicht mit der EU nach deren Vorstellungen kooperieren, künftig keine Flüchtlinge im Wege der Neuansiedlung mehr aufgenommen werden sollen.
Unter den Begriff Maßnahmen der Migrationskontrolle könnte auch die Rückübernahme von Staatsangehörigen fallen. Diese wird derzeit vermehrt in sogenannten Rückübernahmeabkommen zwischen der EU und Drittstaaten vereinbart. Auch die Vorverlagerung der Grenzkontrollen in Transit- und Herkunftsländer von Migrant(inn)en könnte dazugehören. Die Europäische Union ist derzeit dabei, insbesondere entlang der innerafrikanischen Migrationsrouten mittels bilateraler Abkommen afrikanische Staaten dazu zu bewegen, ihre nationalen Grenzkontrollen auszubauen.
Sogenannte Migrationspartnerschaften - also vertragliche Vereinbarungen der EU mit Drittstaaten zur Bewältigung der durch Migration entstehenden Herausforderungen - könnten Maßnahmen der Migrationskontrolle unter anderem mit denen der Entwicklungshilfe verknüpfen. Nach dem Willen der EU-Kommission könnte dies nun auch mit Hilfe von Resettlement geschehen. Leidtragende wären dann die vulnerabelsten Gruppen, die ihre letzte Chance in der Neuansiedlung sehen, da sie auf anderem Wege aus eigener Kraft ihrer aussichts- und perspektivlosen Lage nicht mehr entkommen können.
Und im Übrigen: Was soll eigentlich mit all jenen geschehen, die nicht das Glück haben, innerhalb eines Resettlement-Kontingentes in der EU Schutz zu bekommen? Gemessen an der bisherigen Bereitwilligkeit der EU-Mitgliedstaaten, Resettlement-Flüchtlinge aufzunehmen, wird dies die weitaus größere Zahl an Schutzsuchenden bleiben. Zwar haben sich jüngst die Mitgliedstaaten darauf geeinigt, 50.000 Menschen durch Resettlement aufzunehmen. Doch was bedeutet das, wenn weltweit derzeit bereits über eine Million Menschen auf einen Resettlement-Platz warten? Diejenigen, die nicht im Rahmen von Resettlement-Kontingenten nach Europa kommen können, sich aber in der Lage fühlen, ihr Glück auf anderem Wege zu versuchen, werden auch weiterhin gefährliche Routen auf sich nehmen, um die Europäische Union zu erreichen. Doch selbst im Rahmen der Seenotrettung wird derzeit auf EU-Ebene darüber verhandelt, ob sogenannte Plattformen zur Ausschiffung von Schutzsuchenden in Drittstaaten eingerichtet werden sollen.
"Das System kann nur funktionieren, wenn die Außengrenzen bestmöglich gesichert werden", so heißt es in unterschiedlichen Verlautbarungen. Doch was heißt das, wenn Spontaneinreisen in die EU aufgrund massiver Grenzschutzmaßnahmen nicht mehr möglich sein sollen? Die Menschen werden trotzdem migrieren und alles riskieren, solange sie nichts zu verlieren haben.
Die EU braucht ein tragfähiges Konzept
Daran wird deutlich, dass die Europäische Union ein tragfähiges Konzept jenseits der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes benötigt. Neben bestmöglicher Erhöhung und Verstetigung von Resettlement-Kontingenten und europäischen humanitären Aufnahmeprogrammen braucht es weitere neu zu schaffende legale Einreisemöglichkeiten für Migrant(inn)en und Schutzsuchende. Der individuelle Flüchtlingsschutz darf als zentrales Instrument nicht vernachlässigt werden. Dies bedeutet insbesondere, dass auch die Schutzgründe inhaltlich weiterhin in der Europäischen Union geprüft werden müssen und können, und zwar auf eine Weise, die es der EU tatsächlich ermöglicht, ihre Verantwortung im Flüchtlingsschutz vollumfänglich wahrzunehmen. Das heißt aber auch, dass diese gemeinsame Verantwortung durch alle Mitgliedstaaten solidarisch getragen werden muss.
Dies folgt nicht allein daraus, dass die Europäische Union durch völkerrechtlich getroffene Vereinbarungen von außen eben darauf verpflichtet wurde, sondern dies resultiert vielmehr daraus, dass sie und insbesondere ihre Bürger(innen) - die Europäer(innen) - dies selbst wollen. Sie selbst haben sich die EU als Wertegemeinschaft erschaffen. Die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, in der die Mitgliedstaaten von den wirtschaftlichen Vorteilen profitieren. Der Schritt von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer europäischen politischen Union wurde durch die Gründung der Europäischen Union mittels des Vertrages von Maastricht längst vollzogen. Die Präambel der Charta der Grundrechte der EU betont, dass "die Völker Europas entschlossen sind, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden".
Die Völker haben sich auf gemeinsame Werte verpflichtet
Es sind die gemeinsamen Werte, auf die sich die Völker Europas verpflichtet haben. Alle Mitgliedstaaten der EU haben sich den europäischen Werten, wie sie in Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union niedergelegt sind, unterworfen. Jeder Vertragsstaat dieser supranationalen Gemeinschaft hat mit Beitritt zugesagt, den sogenannten "acquis communautaire" der Union zu übernehmen. Dieser umfasst zuvörderst die grundlegenden Werte, auf die sich die Europäische Union gründet und die aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Konvention der Menschenrechte erwachsen. Diese Werte postulieren als höchstes Rechtsgut die Würde des Menschen. Die Achtung der Menschenwürde wiederum basiert auf dem spirituellen Prinzip moralischer Verantwortlichkeit und geistiger Weite. Ein Bewusstsein, welches anknüpft an eine schöpferische Dimension, die größer ist als wir und der wir als menschliche Wesen durch Geburt verpflichtet sind.
Aus dieser Verantwortung als Menschen gegenüber den Menschen erwächst die Humanität, der sich Europa und seine Völker verpflichtet haben. Hieraus bildet sich der Anspruch der EU als normative Kraft in der Welt. Dieser Verantwortung muss Europa gerecht werden und darf sich nicht beugen. Alles Handeln muss daran gemessen und gerechtfertigt werden. Die Europäische Union der Menschen darf entgegengesetzten Kräften nicht weichen und sich nicht mit weniger zufriedengeben. Flüchtlingsschutz als originäre Aufgabe europäischen Humanitätsverständnisses darf nicht auf geringerem Niveau ausgelagert werden.
Anmerkung
1. Die EU-Türkei Erklärung enthält zwar die Pflicht zur Einzelfallprüfung, wenn aber der/die Schutzsuchende aus einem Staat kommt, der als sicherer Drittstaat anerkannt wurde, steht es nach derzeit geltendem europäischen Recht im Ermessen des prüfenden Mitgliedstaates, die Zulässigkeit des Verfahrens zu verneinen, so dass die Prüfung der Schutzgründe in der EU entfiele.
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