Auf junge Menschen zugehen
Junge Menschen sind gefragt: auf Linienbussen wird für die Erzieher(innen)ausbildung geworben, Handwerker kommunizieren auf ihren Autos, dass sie Auszubildende suchen, und in U-Bahn-Haltestellen wird über Karrieren bei der Bundeswehr informiert. Immer mehr Unternehmen ergänzen diese Formen der Nachwuchsgewinnung um einen weiteren Bereich: die berufliche Orientierung. Der Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat dieses Handlungsfeld in einem Projekt analysiert und als langfristige Möglichkeit zur Personalgewinnung erkannt.
Berufliche Orientierung ist ein "lebenslanger Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums auf der einen und Möglichkeiten, Bedarf und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt auf der anderen Seite"1. Zentral sind zwei Perspektiven: die subjektive Entscheidung des Einzelnen für einen Beruf und die Angebote Dritter, die den individuellen Orientierungsprozess unterstützen.
Besonders für junge Menschen im Übergang von der Schule in die Arbeitswelt ist die berufliche Orientierung gleichermaßen herausfordernd wie wichtig. Berufsorientierungsangebote sollen sie in ihrer Kompetenz stärken, die eigene Berufsbiografie realistisch, zielgerichtet und unter Berücksichtigung der Anforderungen des Arbeitsmarktes zu gestalten.
Ausbildungsmarkt birgt Brisanz
Wie groß inzwischen die Brisanz auf dem Ausbildungsmarkt ist, wissen Personalverantwortliche längst. Die niedrige Geburtenrate, die sinkende Zahl von Schulabgänger(inne)n und die Tendenz zu höheren Schulabschlüssen machen es Unternehmen immer schwerer, Lehrstellen zu besetzen und so mittel- und langfristig ihren Bedarf an Fachkräften zu sichern. Diese Entwicklung spürt auch die Caritas: In den zentralen Arbeitsfeldern verschärft sich die Personalsituation.
Während Expert(inn)en im produzierenden Gewerbe wegen Automatisierung, Technisierung und Digitalisierung eher eine rückläufige Beschäftigtenzahl prognostizieren, erkennen sie bei Organisationen wie der Caritas eine gegenläufige Tendenz: Hier wird sich der Personalbedarf weiter erhöhen, auch deshalb, weil es in der Regel personalintensive Arbeitsbereiche sind. Immer mehr Menschen brauchen im Alter Unterstützung; wegen der steigenden Zahl an berufstätigen Müttern und dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz sind mehr Angebote an früher Bildung notwendig. Im Bereich der Sozialarbeit und -beratung gab es 2016 erstmals mehr offene Stellen als Arbeitsuchende.
Schon in der Schule orientieren
Vor diesem Hintergrund hat auch die Bildungspolitik die Bedeutung beruflicher Orientierung erkannt. Zwei Beispiele hierzu: Der neue Landesbildungsplan Baden-Württemberg sieht vor, dass in allen Unterrichtsfächern berufliche Orientierung thematisiert wird. Außerdem sind die Schulen im Land verpflichtet, ein schulspezifisches, standortbezogenes Konzept zur beruflichen Orientierung zu erstellen. An bayerischen Gymnasien sollen Koordinatoren für berufliche Orientierung eingeführt werden.
Dass auch der Bedarf der Schüler(innen) an beruflicher Orientierung groß ist, belegt die McDonald’s Ausbildungsstudie von 2017. Etwa 40 Prozent der Schüler(innen), die eine betriebliche Ausbildung anstreben, wünschen sich bei der Berufswahl mehr Unterstützung durch Schulen und Lehrkräfte. 2015 waren es nur 31 Prozent. Nur 18 Prozent wünschten sich eine bessere Unterstützung durch Unternehmen und lediglich sieben Prozent durch die Eltern.2 Grund dafür ist die Fülle an Optionen und Möglichkeiten, die sich durch immer mehr Ausbildungsberufe und Studienmöglichkeiten bieten. Nach der Studie von 2015 glauben 64 Prozent der Schüler(innen), dass es deswegen heute viel schwieriger sei als früher, sich für einen Beruf zu entscheiden.3
Caritas-Einrichtungen haben gute Möglichkeiten
Daher müssen sich Caritas-Einrichtungen systematisch dem Handlungsfeld berufliche Orientierung zuwenden. Zwar bieten viele Caritasverbände bereits Praktika, Freiwilligendienste, Schulkooperationen oder Ausbildungen an. Doch es bedarf deutlich größerer Anstrengungen, will man als attraktiver Partner von Schulen und jungen Menschen wahrgenommen werden.
Profitieren können Caritas-Einrichtungen dabei von einem breitgefächerten Netzwerk an Bildungsinstitutionen, die junge Menschen kontinuierlich begleiten: von der Kita über katholische Schulen und Einrichtungen, die Betriebspraktika, Hospitationen und Freiwilligendienste anbieten, bis zu Fachschulen und katholischen Hochschulen. Ein weiteres Pfund, mit dem die Caritas wuchern kann, ist die Vielfalt der sozial-caritativen Einsatz- und Berufsfelder. Das große Interesse von Schülerinnen an diesen beruflichen Feldern belegt auch das Schülerbarometer 2017.4
Caritas-Einrichtungen müssen ihre bestehenden Angebote der beruflichen Orientierung stärker nutzen und klassische Instrumente wie Schüler(innen)praktika quantitativ und qualitativ hochwertig anbieten.
Verschiedene Ansätze versprechen Erfolg
Um die bereits bestehenden Angebote von Caritas-Einrichtungen bei der Zielgruppe bekanntzumachen, wird der DiCV Rottenburg-Stuttgart im Laufe des Jahres in der Online-Stellenbörse des Deutschen Caritasverbandes Ausbildungs-, Praktikums- und Freiwilligen-Plätze gesondert ausspielen lassen.
In einigen Bundesländern (zum Beispiel Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen) können Betriebe ihre Azubis von der IHK zu Ausbildungsbotschaftern qualifizieren lassen. Diese stellen an Schulen ihren Ausbildungsberuf und die Karrieremöglichkeiten vor.5 Ein intensiveres Engagement beim bundesweit stattfindenden "Boys’ Day" wäre ein drittes Beispiel, wie man mit geringem Aufwand ein etabliertes Format nutzen kann. Gleichzeitig ermöglicht es, junge Männer zu erreichen, die in sozial-caritativen Berufsfeldern unterrepräsentiert sind.
Perspektivisch ist die Entwicklung neuer Modelle unverzichtbar. Denkbar wären beispielsweise Fortbildungen für Lehrkräfte, die wichtige Multiplikator(inn)en sind. Sie könnten innovative caritative Einrichtungen besuchen oder Unterrichtseinheiten und Informationen über die Ausbildungs- und Karrierewege der Sozialbranche erhalten. Man könnte ihnen Kooperationen zwischen Caritas-Einrichtungen und Schulen anbieten. Die Nachmittagsbetreuung in Ganztagsschulen bietet beispielsweise gute Möglichkeiten für eine projekthafte Zusammenarbeit. Da die Verantwortung der Lehrkräfte für die berufliche Orientierung der Schüler(innen) inzwischen deutlich gestiegen ist, dürfte die Nachfrage hier sehr groß sein.
Alle am Berufsorientierungsprozess beteiligten Akteure müssen als solche erkannt und durch Kooperationen einbezogen werden. Dazu gehören - neben den jungen Menschen selbst - die Eltern, die Mitarbeitenden der Caritas als Botschafter(innen) ihres Berufs, die Praktikumsbetreuer(innen) in Caritas-Einrichtungen, Ehrenamtliche und viele mehr.
Die Persönlichkeitsentwicklung unterstützen
Die Caritas muss attraktive Angebote, die der beruflichen Orientierung junger Menschen dienen, modellhaft entwickeln und flächendeckend umsetzen. Damit steigert sie mittel- und langfristig die Wahrscheinlichkeit, dass junge Menschen während ihrer beruflichen Präferenzbildung von den Möglichkeiten im sozial-caritativen Bereich wissen, die darin liegenden Chancen erkennen und diese als attraktiv wahrnehmen. Dabei soll sich die Caritas wegen ihres christlichen Selbstverständnisses von anderen, wirtschaftlich orientierten Akteuren unterscheiden. Denn sie will - über die reine Personalgewinnung hinaus - Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen und das Bewusstsein für die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Sozialwirtschaft fördern.
Die Offenheit für Partnerschaften und die Notwendigkeit, sich dem Handlungsfeld berufliche Orientierung zu widmen, waren noch nie so groß wie heute. Diese Gunst der Stunde zu nutzen und sich als kompetenter und attraktiver Partner der schulischen Berufsorientierung aufzustellen, gilt es zu erkennen und zu ergreifen.
Anmerkungen
1. Butz, B.: Grundlegende Qualitätsmerkmale einer ganzheitlichen Berufsorientierung. In: Famulla, G.-E. (Hrsg.): Berufsorientierung als Prozess - Persönlichkeit fördern, Schule entwickeln, Übergang sichern. Hohengehren, 2008, S. 42-62, S. 50.
2. McDonald’s Ausbildungsstudie: Job von Morgen! Schule von Gestern. Ein Fehler im System? München, 2017, S. 67.
3. McDonald’s Ausbildungsstudie: Entschlossen unentschlossen. Azubis im Land der (zu vielen) Möglichkeiten. München, 2015, S. 16.
4. So gaben beim Schülerbarometer 2017 circa 38 Prozent der befragten Schülerinnen an, eine Ausbildung im Bereich Pflege/Medizin/Gesundheit und Soziales und circa 21 Prozent im Bereich Erziehung und Bildung anzustreben. Damit belegten sie Platz 1 und Platz 3 der beliebtesten Ausbildungsbereiche. Vgl. Trendence Institut: Deutschlands 100 - Schüler 2018. Berlin, 2018, S. 15.
5. In der Kategorie "Gesundheit und Pflege" sind die Ausbildungsbotschafter in Baden-Württemberg mit einem Anteil von 4,8 Prozent deutlich unterrepräsentiert verglichen mit dem Anteil von acht Prozent der in diesem Bereich abgeschlossenen Ausbildungsverträge.
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