„KI verändert, wie soziale Arbeit und Wohlfahrtspflege funktioniert“
Das Entwicklungstempo bei Künstlicher Intelligenz ist enorm. Ist die soziale Arbeit bereit für die "KI-Revolution"?
Von "bereit" sollte man wohl nicht sprechen. Wir haben es hier mit radikalen Veränderungen zu tun, die wir als Profession im Blick haben müssen. Als Sozialarbeitende müssen wir diese Veränderungen begleiten, analysieren und uns fragen: Was bedeuten diese Entwicklungen für mein professionelles Handeln? Wie kann sich die soziale Arbeit vor dem Hintergrund der neuen Möglichkeiten und Gefahren von KI weiterentwickeln? Was macht das mit den Adressat:innen der sozialen Arbeit? Als Menschenrechtsprofession tragen wir hier eine große Verantwortung. Die produzierende Industrie ist schneller: Hier werden beispielsweise digitale "Zwillinge" entwickelt, um mit KI-Unterstützung rein virtuell einen Prototyp zu testen oder bestimmte Effekte zu modellieren.
Aber auch in der sozialen Arbeit tut sich so manches: In unserer Forschung haben Lauri Goldkind und ich uns angesehen, welche englischsprachigen Publikationen zum KI-Einsatz in der sozialen Arbeit erschienen sind. Seit 2005 konnten wir immerhin 67 Publikationen finden und analysieren. Besonders viel wurde in den Jahren 2021 und 2022 veröffentlicht. Das zeigt: Die soziale Arbeit beschäftigt sich in der Forschung mit all diesen Fragen.
Erste Insellösungen und kleinere Ansätze finden sich durchaus auch in der Praxis, aber vom "großen Wurf" sind wir noch weit weg. Im deutschsprachigen Raum sind die Hürden einfach sehr hoch: Neben ethischen und rechtlichen Problemen gibt es immer die Frage der Finanzierung. Mit Blick auf die Sozialpolitik in Deutschland und in Europa zeigt sich: Beim Thema digitale Transformation muss noch viel passieren - das betrifft nicht nur KI.
Insgesamt gäbe es in der sozialen Arbeit nämlich vielversprechende Einsatzmöglichkeiten: im Fallmanagement, im Klientensupport, beim Thema mentale Gesundheit, im administrativen Bereich, in der Aus- und Weiterbildung oder bei der Dokumentation. International gibt es seit Jahren gute Beispiele: Philip Gillingham zum Beispiel forscht in Australien an Projekten, bei denen mittels "Predictive Analytics" versucht wird, eine Kindeswohlgefährdung frühzeitig und automatisiert einzuschätzen und Fachkräfte in der Kinderfürsorge bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen. Das zeigt: KI verändert, wie soziale Arbeit und Wohlfahrtspflege funktioniert. Ich sage bewusst nicht "verbessert". Denn es gibt Risiken und klare Grenzen.
Ein typisches Risiko sind Verzerrungen, durch die ein KI-Tool unterrepräsentierte Personengruppen beispielsweise benachteiligt. Wie können wir damit umgehen?
Künstliche Intelligenz baut zu einem hohen Anteil auf der Verfügbarkeit von digitalen Daten auf, aber auch Algorithmen und Rechenkapazitäten spielen eine Rolle. Wenn ich keine Daten erhebe, wird es also schwierig, mit KI irgendwas zu machen. In der sozialen Arbeit kommt solchen Daten aber eine besondere Bedeutung zu, denn wir arbeiten mit Menschen. Hier braucht es eine stärkere Kontrolle als in der Industrie: Dürfen die Daten überhaupt in der Weise verwendet werden? Und wenn ja: Wie gut ist die Datengrundlage? Denn KI kann Verzerrungen und Ausgrenzungen verstärken, weil Personen in besonderen Lebenslagen häufiger unterrepräsentiert sind. Deshalb müssen Daten- und Algorithmusgerechtigkeit von Anfang an mitbedacht werden.
Im Einsatz solcher Tools müssen sich die Anwender:innen gerade in der sozialen Arbeit über diese Risiken im Klaren sein und immer bedenken, dass eine KI auch falsche Schlüsse ziehen kann. Deshalb muss es auch immer der Mensch sein, der am Ende zum Beispiel über eine Hilfeplanung entscheidet.
Wie können soziale Einrichtungen und Organisationen der Versuchung widerstehen, Mitarbeitende mit ihrer Berufserfahrung und Intuition in immer größeren Stellenanteilen durch KI ersetzen zu wollen?
Eine Sozialarbeiterin kann nicht durch einen Chatbot ersetzt werden. Die Forschung, die wir analysiert haben, zeigt ein anderes Bild, das der Human AI Collaboration: Es gibt viele Möglichkeiten, bei denen KI bestimmte Tätigkeiten unterstützen oder übernehmen kann und so auch, provokant gesagt, dem Fachkräftemangel etwas entgegensetzen kann: Dokumentation, Verwaltung, manche Dienstleistungen kann KI vereinfachen - hier kann man vielleicht ein paar Stunden einsparen, um diese Zeit dann für mehr "wertschöpfende Tätigkeiten" einzubringen. Die soziale Arbeit als Berufsfeld schafft sich dadurch nicht ab, muss aber äußerst wachsam sein und wie einige Träger proaktiv daran arbeiten. Denn es gibt noch eine andere Gefahr: Was ist, wenn wir uns nicht mit diesen Veränderungen beschäftigen? Dann tun es vielleicht andere, zum Beispiel die Tech-Giganten, die dann glauben: Wir können das, was die soziale Arbeit leistet, besser und schneller. Diese Gefahr dürfen wir nicht ignorieren. Wir müssen aufgrund unserer Profession und unserer Erfahrung diese Zukunft mitgestalten.
Neben den Risiken betonen Sie in Ihrem Rahmenmodell auch die Chancen, die KI bietet. Wo sehen Sie Anwendungsfälle?
Wir haben in unserer Analyse einige Chancen herausgearbeitet und diese am Tripel-Mandat nach Silvia Staub-Bernasconi festgemacht, um daraus ein menschenrechtskonformes Modell (Anm. d. Red.: Mehr dazu unter https://tinyurl.com/nc08-25-KI-Modell) zu entwickeln.
Auf Adressat:innen-Ebene zeigt sich, dass wir mit KI individuelle, klient:innenorientierte Angebote schaffen können. Vorausgesetzt, die Datengrundlage stimmt, könnten wir - ähnlich wie im Gesundheitswesen - stärker auf persönliche Besonderheiten eingehen und eventuell frühzeitig gute und passende Unterstützung anbieten, noch bevor eine wirkliche Krise entsteht.
Auf Ebene der Profession kann KI die Professionalisierung vorantreiben und etwa bei wichtigen professionellen Entscheidungen mit Datenanalysen unterstützen. Solche Entwicklungen könnten auch dafür sorgen, dass sich nochmal andere Personengruppen für das Berufsfeld und ein Studium der Sozialen Arbeit interessieren.
Auf der Ebene der Organisation geht es vor allem um Ressourcenallokation. Denn: KI ermöglicht, die eingeschränkten Ressourcen für die bestmögliche Wirkung einzusetzen. "Nicht wertschöpfende" Tätigkeiten können automatisiert, Ressourcen für Wesentliches und Qualität eingesetzt werden. Die Wirkungsorientierung rückt dann endlich in den Mittelpunkt.
Was braucht es, damit das gelingt?
Für all das braucht es neue Fähigkeiten, mehr sogenannte Future Skills in der sozialen Arbeit. Zusätzlich zu klassischen Anforderungen kommen neue Skills hinzu: Sozialmanagement, Datenmanagement, Digitalisierung. Für Organisationen bedeutet das: Lebenslanges Lernen muss direkt am Arbeitsplatz integriert sein. Mitarbeitende sollten Gelerntes in ihrer Organisation auch teilen. Es braucht ein übergreifendes Wissensmanagement. Es braucht den Mut, sich mit dieser Zukunft und damit auch mit einer neuen Führungskultur zu beschäftigen.
Wo sehen Sie Hürden bei der Umsetzung dieser Chancen in sozialen Organisationen?
Viele, auch kleine Organisationen wollen loslegen, die Bereitschaft und das Potenzial sind hoch. Ein Problem ist, dass die soziale Arbeit - und das ist ja grundsätzlich gut so - politisch abhängig ist, von der Gesetzgebung und von den Kostenträgern. Hier würde ich mir von den Kostenträgern mehr Verständnis wünschen für das, was in den Einrichtungen passiert. Es kann nicht sein, dass besonders effizient und effektiv arbeitende Organisationen in der nächsten Verhandlung schlicht weniger Geld bekommen, weil sie weniger Kosten verursachen. Vielleicht braucht es da neue Modelle wie zum Beispiel einen Innovations- oder Transformationsbonus, der Organisationen eher belohnt, wenn sie besonders professionell oder effizient unterwegs sind. Denn die KI-Transformation braucht dringend auch finanzielle Ressourcen, die wir in Caritas, Diakonie, Parität oder DRK nicht so einfach aufwenden können. Kleine Modellprojekte, die nach zwei oder drei Jahren wieder versiegen, helfen da nicht viel. Wir müssen solche Ressourcen in die Leistungskataloge aufnehmen und diese reformieren.
KI verändert, wie sozial gearbeitet wird. Aber sollte es nicht auch umgekehrt sein? Welchen Einfluss haben eigentlich soziale Arbeit und Sozialwissenschaften auf die Entwicklung von KI-Tools? Wo kann sich die soziale Arbeit einbringen?
Eine schöne Idee wäre: Lasst uns mehr Sozialarbeiter:innen und Sozialwissenschaftler:innen in Entwicklungsteams einbinden - damit Personen mit an Bord sind, die die menschlichen Aspekte mitdenken, die auf vulnerable Personengruppen oder auf Themen wie Inklusion und Exklusion blicken. Das passt auch gut zur Idee von agiler Produktentwicklung, bei der ja immer verschiedene Rollen im Team zusammenarbeiten. Da könnten Sozialarbeiter:innen die Rolle "Mensch" besetzen.
Es ist in Zukunft auch Aufgabe von Sozialarbeiter:innen, sich für die Zukunft und für Datengerechtigkeit einzusetzen.