Ein Aufbruchsjahr der Caritas in Freiburg
Es muss eine universitäre Einrichtung für Forschung und Lehre im Feld der Caritas geben"1, so die Überlegung von Caritasgründer Lorenz Werthmann. Sein Nachfolger Benedict Kreutz hat 1922 schon im ersten Jahr seiner Präsidentschaft im Deutschen Caritasverband (DCV)2 diesen Gedanken aufgegriffen und die Universität Freiburg und das Land um die Einrichtung eines Instituts für Caritaswissenschaft an der Theologischen Fakultät gebeten. Angesichts der rasanten sozioökonomischen, sozialrechtlichen und -politischen Entwicklungen in der jungen Weimarer Republik mit dem Wachstum der sozialen Dienste und Einrichtungen im Allgemeinen und der Caritas im Besonderen begründete Kreutz seine Bitte: "Jede geistige Strömung und Bewegung, die schon einen längeren Weg zurückgelegt hat, ist leicht der Gefahr ausgesetzt zu versanden und zu verflachen, weil sie in die Weite und in die Breite sich ergossen hat. (…) Bei keiner anderen Geistesströmung des abendländischen Kulturkreises wäre der Mangel an Tiefe und an Seele verhängnisvoller als gerade beim Stromlauf der Caritas. Diesen Erwägungen verdankt das Institut für Caritaswissenschaft nicht zuletzt seine Entstehung."3 Bezeichnend für den sozialen Fortschritt dieser Zeit sind das deutsche Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) von 1922 und die Reichsfürsorgeverordnung von 1924.
Tatsächlich wurde das Institut für Caritaswissenschaft dann am 3. April 1925 gegründet und nahm zum Sommersemester 1925 unter der Leitung von Franz Keller seine Arbeit auf. Die Theologische Fakultät öffnete damit erstmals auch ihre Türen für Frauen - (noch lange) nicht für die "kanonische Theologie", sondern für das Studium der Caritaswissenschaft. Bis das Institut am 8. November 1938 als einziges Fach der Theologie definitiv von der nationalsozialistischen Regierung unterdrückt wurde, hatten über 75 Frauen dort ihren Abschluss erworben.4 Von 1931 bis Ende 1933 studierte auch die christliche Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus, Gertrud Luckner, am "Institut".5
1925 war jedoch nicht nur das Jahr der Gründung des Instituts für Caritaswissenschaft, sondern auch ein entscheidendes Jahr für weitere Entwicklungen aus der Caritas für die katholische Kirche bis heute.
Caritasverband Freiburg Stadt wird ins Vereinsregister eingetragen
1925 wurde das Caritas-Büro für die Caritasdienste und -aufgaben in der Stadt Freiburg wegen deren Fülle und aus grundsätzlichen Überlegungen organisatorisch und rechtlich aus dem 1903 gegründeten Diözesan-Caritasverband der Erzdiözese Freiburg herausgelöst und am 20. Juni 1925 als Caritasverband Freiburg Stadt in das Vereinsregister eingetragen.6 Lorenz Werthmann hatte kontinuierlich auf allen drei Ebenen gewirkt: Die Anerkennung der Caritas 1916 mitten im Ersten Weltkrieg durch die Fuldaer Bischofskonferenz hatte zu großen Erleichterungen und zahlreichen Initiativen für die Gründung von Diözesan- und Orts-Caritasverbänden geführt.
Erster pastoraler Frauenberuf
Eine enge Verbindung von Caritas und Seelsorge war das treibende Anliegen der Freiburgerin Margarete Ruckmich (1894-1985), die nach einer Ausbildung an der Sozialen Frauenschule des DCV ab 1924 in der Zentrale des DCV arbeitete. 1925 publizierte sie unter dem Pseudonym Maura Philippi ihre Denkschrift "Die katholische Gemeindehelferin" mit einer konturierten Darstellung für ein neues, weibliches Berufsbild in der katholischen Kirche. Zusammen mit dem Kamillianer-Pater Wilhelm Wiesen, von 1920 bis 1947 Referent für Laienapostolat und Seelsorge im DCV, führte sie dann mit insgesamt 105 Frauen 1926 in dessen Abteilung Seelsorgehilfe zwei Fortbildungskurse explizit für Gemeindehelferinnen durch. Daniela Blank spricht in ihrer Studie zur Berufsgemeinschaft der Gemeindereferentinnen davon, dass diese ersten Caritaslehrgänge "die Geburtsstunde"7 dieses neuen caritativ-pastoralen Frauenberufes waren.
Elisabeth-Schwestern
Margarete Ruckmichs Leidenschaft für die sozialen Nöte der Bevölkerung und der Gemeinden wurde durch die Leiterin der Elisabethkonferenz in der Freiburger Innenstadtgemeinde St. Martin, Mathilde Otto (1875–1933), geweckt.8 Bei ihr lernte sie schon als 17-Jährige ab 1911 die praktische "Caritas-Arbeit" in der Betreuung armer Familien, insbesondere die ehrfurchtsvolle zwischenmenschliche Begegnung mit jedem Armen. Während des Ersten Weltkrieges wurde Mathilde Otto stadtbekannt als "Erste Armenfürsorgerin" der Stadt Freiburg. Auf Drängen Werthmanns kam sie im Oktober 1918 als Leiterin des neuen Referates Armen- und Familienpflege in die Zentrale des DCV und war 1919 eine von neun Frauen, die erstmals in die Badische Nationalversammlung gewählt wurden. Ihr Mandat gab sie jedoch nach einem Jahr zurück, um sich der ihr viel wichtigeren konkreten Arbeit beziehungsweise Not der Familien, besonders der Kriegerwitwen mit ihren Kindern, vor Ort zu widmen (und einem Mandat als gewählte Freiburger Stadträtin von 1922 bis 1926). Angesichts der großen Nöte junger Frauen und Mütter beschloss sie 1925, eine Schwesternschaft für Familienpflege zu gründen, deren Lebensordnung auch ganz zu ihren Aufgaben passte. An Weihnachten 1925 wurde die Elisabeth-Schwesternschaft, bestehend zuerst aus Mathilde Otto und vier weiteren Frauen aus der Familienpflege, offiziell gegründet, 1929 gelang es ihr dann, an ihrem Sitz in der Dreisamstraße 15 bis 19 in Freiburg das Elisabeth-Krankenhaus als Geburtsklinik zu gründen. Mit den Elisabeth-Schwestern gab es erstmals eine katholische Ordensgemeinschaft, deren Mitglieder mit kirchlicher Zustimmung auch regulär als Hebammen tätig waren. Das Elisabeth-Krankenhaus schloss seine Türen als Geburtsklinik 2002. Während die Gemeinschaft in Indien weiterhin nahe an ihrem bewussten Ursprungsimpuls tätig ist, öffnete sie sich und ihre Häuser in Deutschland für Menschen in anderen akuten Nöten.
2025 feiert der Caritasverband der Stadt Freiburg sein 100-jähriges Bestehen mit offenen Türen für die sozialen Nöte vor Ort. Die sozialen Aufgaben und Herausforderungen – vor allem in Alten- und Eingliederungshilfe - sind seit der Gründung nicht weniger geworden. Die Aufgaben der Pflege und die Herausforderungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) fordern kompetente Lösungen, auch in den Verhandlungen mit den Kostenträgern und politisch Verantwortlichen.
Die Caritas hält Türen bis heute offen
In den pastoralen Transformationsprozessen der katholischen Kirche und ihrer Sozialgestalt könnten die pastoralen Laien-Berufe Inspiration aus einer stärkeren kompetenten Verbindung mit der Caritas aus der Ursprungsmotivation schöpfen und neuen Elan gewinnen. Diese entwickelte Margarete Ruckmich 1925 visionär und lud ein, die Menschen in Not (auf-) zu suchen und an ihren Türen anzuklopfen. Die Wiederentdeckung der sozialen Aufgaben und Möglichkeiten in der Seelsorge als Erfahrungsort von Gottes- und tätiger Nächstenliebe könnte das heute vorherrschende Berufsbild (nicht nur) der Gemeindereferentin und des Gemeindereferenten zumal in den neuen "Großgemeinden" mit neuer Begeisterung für "das Wesentliche" verwandeln, das die Ursprungsmotivation dieses Berufes darstellt, und aus den Sackgassen "konventioneller Pastoral" herausführen.9
Und die Caritaswissenschaft? Sie erfreut sich seit 1925 auch 2025 an der Uni Freiburg kontinuierlichen Zuspruchs zu ihrem regelmäßig an die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen angepassten, interdisziplinären Master-Studiengang Caritaswissenschaft und Ethik und ihren internationalen Lehr-, Vernetzungs-, Forschungs- und Publikationsaktivitäten. Ihr größtes "Kapital" sind die begeisterten und begeisternden Studierenden und Promovierenden, Forscherinnen und Forscher, die diese offenen Türen nutzen. Im geradezu unerschöpflichen Feld der sozialen Sendung der (weltweiten) Kirche besonders für die Armen und Bedrängten aller Art (Gaudium et spes Nr. 1), des Gesundheits- und Sozialwesens in unterschiedlichen Kulturen und Ländern gehen ihnen die Ideen und Arbeit nicht aus für Forschung, die der Liebe dient.10
1. Schon 1902 dachte Werthmann an ein Kollegium von über zehn ständigen Mitarbeitenden, vergleichbar der staatlich finanzierten Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Caritas 1902, S. 158–159.Vgl. Borgmann, K. (Hrsg.): Lorenz Werthmann. Aus seinen Reden und Schriften. Freiburg: Lambertus, 1958, S. 79.
2. Vgl. Zeil, P.: Jeder Mensch ist uns der Liebe wert. Benedict Kreutz als zweiter Präsident des Deutschen Caritasverbandes. Würzburg: Echter, 2016. Er zog 1922 als Präsident nach der Übergabe des Berliner Büros an seinen Nachfolger nach Freiburg.
3. Zit. nach Zeil, S. 65.
4. Namentlich aufgeführt in: Baumann, K.: Frauen am Institut für Caritaswissenschaft der Theologischen Fakultät von 1925 bis 1940. In: Nothelle-Wildfeuer, U.; Kaupp, A. (Hrsg.): Frauen bewegen Theologie. Das Beispiel der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
(Historisch-theologische Genderforschung Bd. 3), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2007, S. 232–239, hier: S. 237 f.
5. Vgl. ebd.; Wollasch, H.-J.: Gertrud Luckner: "Botschafterin der Menschlichkeit". Freiburg: Herder, 2005.
6. Vgl. Caritasverband Freiburg Stadt e. V. (Hrsg.): Auftrag und Dienst. 60 Jahre Caritasverband Freiburg Stadt e. V. Freiburg, 1986.
7. Blank, D.: Verwurzelt in der Caritas. Die Entwicklung der Gemeinschaft katholischer Gemeindereferentinnen e. V. zwischen 1926-2014. Würzburg: Echter, 2019. Blank, D.: Caritashilfe in der Seelsorge. In: Deutscher Caritasverband (Hrsg.): neue caritas-Jahrbuch 2019, Freiburg, 2018, S. 38–141.
8. Vgl. Wollasch, H.-J.: Mathilde Otto (1875-1933), "Armenfürsorgerin". Eine (fast) vergessene Frau der Caritas. Erweiterter Sonderdruck aus Caritas, 1989, S. 297-324. Baumann, K.: Mathilde Otto und ihr Werk: "Aktueller geht es nicht!". In: Deutscher Caritasverband (Hrsg.): neue caritas-Jahrbuch 2017, Freiburg, 2016, S. 132–137.
9 .Vgl. Stark, K.: Keine halben Sachen - aufs Ganze gehen! Für ein gelingendes Miteinander von Caritas und Pastoral: Eine Studie zur Vernetzung von Caritas und Pastoral in den neuen Pastoralstrukturen. Würzburg: Echter, 2020.
10. Weitere Infos unter: https://uni-freiburg.de/theol-cw