Im Dienst der Kleinsten
Auf den ersten Blick eine ganz normale Familie: Morgens frühstückt Paul mit Mama und Papa. Dann geht es in den Kindergarten, nachmittags auf den Spielplatz. Nach dem Abendessen probiert der Fünfjährige voller Vergnügen noch gemeinsam mit Papa das nagelneue Feuerwehrauto aus. Mit einer Gute-Nacht-Geschichte geht er dann zufrieden ins Bett.
Und doch: Manchmal öffnet Paul den Wohnzimmerschrank, holt seine "Schatzkiste" heraus und sieht sich intensiv Fotos und kleine Spielsachen an. Dann wird der sonst so lustige Junge ganz still und nachdenklich. Denn auf den Fotos ist eine andere Frau zu sehen als seine Mama zu Hause, und die Spielsachen erinnern ihn dunkel an eine andere Zeit.
Paul ist ein Pflegekind, er lebt seit mehr als vier Jahren bei Familie Mitschke (Name geändert) und fühlt sich wohl. "Doch ab und an will er schon mehr wissen über die Frau auf den Fotos, über die Vergangenheit und warum die Frau nun nicht mehr bei ihm ist", erzählt Marie Mitschke, die sich dann oft zu Paul setzt und ihm das, was sie weiß, erzählt und erklärt.
Pauls leibliche Mutter ist psychisch nicht in der Lage, den Sohn bei sich aufwachsen zu lassen. Die junge Frau hat ihn als Baby immer wieder vernachlässigt, hat Alkohol getrunken, geriet in einen Teufelskreis, aus dem es ihr schwerfällt, sich zu befreien. Doch Paul hatte Glück im Unglück. Durch die Initiative des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF), den der Allgemeine Soziale Dienst des Kreisjugendamtes eingeschaltet hatte, fand Paul ein neues Zuhause.
Und damit eine neue Familie, die ihm Sicherheit, Geborgenheit und Liebe schenkt. Nicht kurzfristig, sondern auf Dauer. "Wir stehen immer auf Seiten des Kindes, wir wollen ihm nach dieser Verlusterfahrung eine langfristige und sichere Bindung zu seinen Pflegeeltern vermitteln", betont Gertrud Flore, Geschäftsführerin des SkF im Kreis Höxter und eine der Betreuerinnen im Pflegekinderdienst. Seit 20 Jahren engagiert sich der SkF für den Pflegekinderdienst im gesamten Kreis Höxter. Jahrzehnte zuvor, bereits seit dem SkF-Gründungsjahr 1931, war der Dienst für den Süden des Kreises zuständig.
Kind entscheidet über das Tempo
Heute kümmern sich Gertrud Flore und ihre Kolleginnen Hildegard Blass, Huberta Nolte und Uta Heilemann-Kleine um rund 95 Kinder, die im Kreis Höxter in einer Pflegefamilie aufwachsen. 1997 waren es noch knapp 60 Pflegeverhältnisse. Das Engagement erfordert viel Fingerspitzengefühl, Empathie, Geduld und Erfahrung. "Denn das Kind bestimmt das Tempo", weiß Gertrud Flore. Nach den ersten behutsamen Kontakten des Kindes zu den künftigen Pflegeeltern kann es mehrere Monate dauern, bis ganz klar wird, dass das Kind Vertrauen gefasst hat und gern in der neuen Familie bleiben möchte.
Es gibt natürlich auch Ausnahmen: die kleine Johanna beispielsweise, welche ein nettes Ehepaar aus Warburg kennenlernte. Nach ein paar Wochen fasste die Kleine im Auto die Situation für sich folgendermaßen zusammen: "Also, ich muss ja neue Eltern haben. Und ihr sucht doch ein Kind. Dann kann ich doch bei euch einziehen, das passt doch, oder?" Bei dem Gedanken daran muss die Pflegemutter heute noch lächeln: "Johanna war mit uns so schnell vertraut, die gehörte einfach zu uns."
Einfach sind die Wege und die Herausforderungen für die Pflegeeltern nicht. Sie müssen sich für ihre künftige Aufgabe qualifizieren: Informations- und Bewerbergespräche, Vorbereitungsseminar und zahlreiche Fragen zur Lebens- und Wohnsituation gehören dazu. "Wir sehen genau hin und geben allen Beteiligten genügend Zeit, damit es später auch richtig gut klappt mit Kind und Pflegeeltern", erklärt die SkF-Vorsitzende.
Familie muss Rückendeckung geben
Und ganz wichtig: Die ganze Familie muss die Entscheidung, ein Pflegekind aufzunehmen, mittragen. "Sonst klappt das Zusammenleben künftig nicht, und Probleme sind vorprogrammiert", weiß Hildegard Blass, eine der Betreuerinnen beim SkF Warburg. Der fünfjährige Paul beispielsweise verträgt sich gut mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Nina. "Das war kein Problem, Nina hat sich von Anfang an total auf ihr Brüderchen gefreut, und die beiden spielen und toben miteinander, als wären sie immer schon zusammen gewesen", freut sich Marie Mitschke, die es in keinem Moment bereut hat, ein Pflegekind aufgenommen zu haben. "Man wächst in diese Aufgabe hinein, es gibt Höhen und Tiefen, aber wir fühlen uns sehr wohl mit unserer kleinen Familie."
Pflegekinder wollen nichts Besonderes sein. Sie wollen wie andere Kinder zu ihrer Familie gehören, wissen, dass ihre Eltern sie lieben. "Nun ist ihr Selbstwertgefühl jedoch angekratzt durch die Trennung von den leiblichen Eltern", sagt Gertrud Flore. "Und da muss einiges getan werden, um den Kindern wieder eine Chance auf ein normales Familienleben zu eröffnen."
Viel Verantwortung für Pflegeeltern
Wenn nötig, gehören Therapien und stete Unterstützung der Pflegeeltern bei Verhaltensauffälligkeiten der Kinder selbstverständlich dazu. "Die Pflegeeltern müssen eine hohe Belastbarkeit besitzen, denn nicht alles läuft immer harmonisch", so Hildegard Blass. Die Kinder haben oft eine schwierige Vorgeschichte: Denn die Vernachlässigung durch die leiblichen Eltern haben nicht selten Verletzungen auf der kindlichen Seele hinterlassen, manchmal sogar traumatische Erfahrungen, die bewältigt werden müssen. "Da wird von den Pflegeeltern viel Engagement, Sensibilität und Verantwortungsgefühl abverlangt", wissen die Betreuerinnen des SkF.
Und wegen ihrer besonderen Lebenssituation müssen die Kinder jene Monate vor der Vermittlung in die Pflegefamilie nachholen. "Denn meistens hinken sie genau diese Zeit in ihrer Entwicklung hinterher", sagt Gertrud Flore, die gemeinsam mit ihren Fachfrauen den Eltern mit Rat und Tat stets zur Seite steht.
Umgang mit leiblichen Eltern
Thema bleibt der Umgang mit den leiblichen Eltern, der, wenn das Kind dadurch nicht belastet wird, gewünscht ist. In Begleitung mit dem Team des SkF und den Pflegeeltern trifft man sich auf neutralem Boden. Manchmal entstehen daraus nach und nach schöne Begegnungen, die gern wiederholt werden. Ein anderes Mal aber auch nicht: "Für die leiblichen Eltern ist es schwer, den Verlust zu ertragen, auch wenn sie sich freuen, dass das Kind gut in der neuen Familie aufgehoben ist", weiß Gertrud Flore. Trotzdem sei es auch für das Kind wichtig, zu sehen, dass die leiblichen Eltern sich interessieren und kümmern - auch, wenn sie nicht mehr Verantwortung tragen. Außerdem: Das Kind sollte sich seiner Wurzeln und seiner Biografie bewusst werden. "Man muss ganz offen damit umgehen, denn die Fragen kommen."
Der fünfjährige Paul sieht sich gern die alten Fotos aus seiner Herkunftsfamilie an. Kontakt zu der leiblichen Mutter gibt es nicht. Aber Paul weiß inzwischen Bescheid: "Das ist meine Bauch-Mama", sagt er und tippt auf ein Foto. "Sie war krank und konnte mich nicht behalten", ergänzt er. Der Kleine lächelt, kuschelt sich vertrauensvoll an die Pflegemutter und sagt: "Und das hier ist jetzt meine richtige Mama."