Ein buntes Buch voller Erinnerungen
Die Einrichtung bietet seither 24 Menschen mit geistiger Behinderung ein Zuhause. Vier ähnliche Wohnstätten gab es zu diesem Zeitpunkt bereits in Dortmund, St. Gabriel ist also die Nummer Fünf. Und doch ist das Haus in Brackel etwas Besonderes: Von den drei Wohngruppen ist eine speziell ausgerichtet auf Bewohner im Seniorenalter. „Diese Altersgruppe ist lange Zeit sehr stiefmütterlich behandelt worden“, erzählt Hausleiterin Anja Bongers. Das System der Betreuung sei sehr auf junge Menschen und Menschen mittleren Alters ausgerichtet. Auch heute noch. In Brackel aber sollte sich das auf jeden Fall ändern. Daher lautet das Motto von St. Gabriel: „Alt und Jung in einem Haus.“
Während die jungen Bewohner tagsüber in einer Werkstatt arbeiten und dort entsprechende Betreuung finden, wird in der dritten Gruppe auf die besonderen Bedürfnisse der älteren Bewohner eingegangen. Die wohnen im Erdgeschoss, „der Rentnerei“, wie Anja Bongers schmunzelnd erzählt. Es war ein Bewohner, der eines Tages den Begriff in Umlauf brachte. „Seither gehört er halt dazu.“
Die Rentnerei gehört zum Haus wie das Abschiednehmen. Nur kurze Zeit nach der Eröffnung starb ein Bewohner des Hauses. Niemand von den Heimbewohnern wollte darüber sprechen. „Es war ein Tabu“, so Anja Bongers. Unter anderem, weil es Menschen mit einer geistigen Behinderung schwer falle zu verstehen, dass ein Mensch, den man geliebt oder mit dem man in einem Haus gelebt hat, plötzlich nicht mehr da ist. Dieses „nicht mehr da sein“ passe nicht in ihre Gedankenwelt. Es sei schwer zu erklären. Auch Angehörige neigten dazu, ihre behinderten Kinder oder Geschwister mit dem Thema nicht belasten zu wollen.
Doch in einem Haus, in dem Menschen im Seniorenalter leben, lässt sich ein solches Thema nicht tabuisieren. Wie sollte man mit der Thematik umgehen? „Zwei Mitarbeiter unseres Hauses brachten von einer Fortbildung eine tolle Idee mit“, erinnert sich Anja Bongers. Die Idee: ein Erinnerungsbuch. Das Buch, das mit den Bewohnern dann bald gestaltet wurde, gibt ihnen die Möglichkeit, auf ihre eigene Weise von einem verstorbenen Mitbewohner Abschied zu nehmen. Auf der rechten Buchseite befindet sich immer ein Bild mit Geburts- und Todestag des verstorbenen Bewohners, auf der linken Seite werden die Erinnerungen an den Bewohner gestaltet, etwa mit Bildern oder mit kleinen Basteleien; es wird aufgeschrieben, welche Hobbys er hatte, welchen Fußballverein er liebte. „Es ist kein Trauerbuch im herkömmlichen Sinne. Es ist ein buntes Buch der Erinnerungen“, weiß Anja Bongers.
Direkt im Eingangsbereich des Wohnhauses liegt es aus und ist für jeden jederzeit zugänglich. Es ist immer aufgeschlagen, entsprechend dem Geburts- oder Todestagmonat eines Bewohners. Intensiv wird es genutzt. Entweder wird es durchgeblättert, manchmal wird über den Verstorbenen geredet. Und manchmal legen Bewohner auch ein Bild für den Verstorbenen ins Buch. „Für die lebenden Bewohnern bedeutet es Sicherheit: Es garantiert ihnen, nach dem Tod nicht in Vergessenheit zu geraten“, weiß Anja Bongers.
Unterstützt wird die Trauerarbeit von der katholischen Kirchengemeinde St. Clemens in Brackel. So wurden gemeinsam mit der Gemeinde würdevolle Abschiedsgottesdienste gestaltet. „Die Bewohner, die uns in den Jahren seit der Eröffnung 2005 verlassen haben, leben in diesem Buch und in unseren Gesprächen weiter und sind immer noch ein Teil dieser Einrichtung.“