Hilfe im Hier und Jetzt
Die Schlange der Wartenden vor dem weißen Kleinbus mit roter Aufschrift ist immer lang - egal ob im Sommer oder Winter. Es ist meist eine Reihe aus Männern, die obdachlos sind und häufig keine Krankenversicherung besitzen. Das Leben auf der Straße hat bei ihnen Spuren hinterlassen: deutlich sichtbare zum Beispiel in Form von infizierten Wunden, aber auch verborgene wie Suchtkrankheiten und Depressionen.
Pro Schicht arbeiten immer eine Sozialarbeiterin, eine Krankenschwester und ein Arzt. Seit drei Jahren ist die Sozialarbeiterin Jenny Kröger an Bord des Arztmobils. Sie klärt mit den Patienten das Formale wie Name, Nationalität und ob eine Krankenversicherung vorhanden ist. Alle Daten werden in einer Patientenakte erfasst, wie sie auch in einer konventionellen Praxis üblich ist. So kann der Arzt die Krankengeschichte jederzeit nachvollziehen, sieht, welche Medikamente zuvor gegeben wurden. Kröger versucht aber auch, während der Behandlung die Lebensgeschichte des Patienten zu erfahren, um vielleicht längerfristig helfen zu können. Das gelingt nicht immer: "Es ist ganz unterschiedlich, wie offen jemand zu einem ist", sagt sie. "Zu manchen findet man ganz schnell einen Zugang, andere wollen nicht einmal ihren Namen nennen."
Ein Schicksal ist ihr besonders in Erinnerung geblieben: Auf einer Tour durch die Berliner Nacht hat sie zusammen mit ihren Kollegen eine Frau unter einer Brücke im Dreck liegend gefunden. Ihr Gesicht war zerschlagen, die Augen zugeschwollen und infiziert. "Sie wollte sich zunächst nicht helfen lassen, hat dann doch Vertrauen gefasst und erzählt, dass sie sich im Suff mit ihrem Freund geschlagen hat", erinnert sich Jenny Kröger. Später sei sie auch ein paar Mal zur Behandlung in die Caritas-Ambulanz am Bahnhof Zoo gekommen. Dort erzählte sie, dass sie mit dem Kerl nicht mehr mitgehen werde, denn sie sei von ihm immer irgendwo hingefahren worden, damit andere Typen mit ihr Sex haben könnten. "Die Frau war psychisch und physisch total kaputt", sagt Kröger. Als das Team des Arztmobils die gebürtige Polin eines Abends an einem Bahnhof wieder gesehen hat, haben sie die Polizei dazu geholt, so dass die Frau den Mann anzeigen konnte, der daraufhin sofort inhaftiert wurde. Was letztlich aus der Frau geworden ist, weiß Jenny Kröger nicht. "Das kann sich keiner vorstellen, was wir hier zu sehen bekommen, was es außer unserem Leben noch gibt", sagt die Sozialarbeiterin. Wenn solche Geschichten bekannter wären, wäre das Verständnis und der Umgang miteinander vielleicht schöner.
Empathie und eine ordentliche Portion trockener Humor helfe, um mit diesem Job gut klarzukommen, so Jenny Kröger - "und eine Portion Abenteuerlust". Im Team werde viel miteinander geredet und auch mal abends telefoniert, um mit dem Erlebten gut umzugehen, denn ganz Abschalten zum Feierabend hin funktioniere nicht immer. Es müsse einem klar sein: "Man kann die Welt von hier nicht retten." Jenny Kröger spricht von einer Gradwanderung zwischen Begeisterung für den Job und die Menschen, denen man begegnet und einer gewissen kühlen Distanz.
Vor 20 Jahren hat das erste Team in einem kleinen Wohnmobil seine Arbeit auf der Straße aufgenommen. "Im Rahmen der Arbeit der Caritas-Ambulanz war aufgefallen, dass viele Wohnungslose nicht in der Lage waren, zu uns kommen", berichtet Peter Wagener, der an der Gründung des mobilen Hilfsangebots beteiligt war. Man habe sich bundesweit umgeschaut und in Hamburg das Vorbild zum Berliner Arztmobil gefunden. Damals wie heute werden vorwiegend Suppenküchen, Wärmestuben und Parks angefahren. Außerdem gab es vor allem in den Anfangsjahren viele Anrufe aus der Bevölkerung, wo sich hilfesuchende Wohnungslose aufhalten.
Der Patientenandrang war bereits zu Beginn sehr hoch, bis zu 40 Hilfesuchende pro Standort, erinnert sich die Leiterin des Arztmobils, Bianca Rossa. Mit Einführung der Versicherungspflicht im Jahr 2007 sind die Zahlen zurückgegangen, um die 1500 Behandlungen jährlich sind es derzeit. "Jetzt findet man auf der Straße viele nicht versicherte Osteuropäer, ehemals privatversicherte Patienten und zunehmend Rentner, die sich nicht die Medikamenten-Zuzahlungen leisten können", erklärt Rossa. "Außerdem sind wir sehr froh, dass die Praxisgebühr abgeschafft wurde, die hat auch einige in unsere Versorgung getrieben."
Während Krankenschwestern und Sozialarbeiterinnen bei der Caritas angestellt sind, engagieren sich die Ärzte ehrenamtlich. Sechs Mediziner sind es derzeit, einer davon ist seit der ersten Stunde dabei. Finanziert wird das Arztmobil durch Spenden und den Berliner Senat. Auch prominente Unterstützer hat das Arztmobil wie den Musiker Frank Zander: "Das Arztmobil ist einmalig und unverzichtbar. Die Hilfe kommt direkt da an, wo sie gebraucht wird." Ähnlich drückt es Sozialarbeiterin Jenny Kröger aus, die ihren Arbeitsplatz an Bord der rollenden Praxis gegen keinen anderen tauschen möchte: "Man kann sehr offen sein, ohne bürokratische Hürden jeden reinlassen und: Man darf jedem helfen!"
Weitere Informationen zum Thema: www.caritas-arztmobil.de
Spenden:
Bank für Sozialwirtschaft Berlin
Kontoinhaber: Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V.
IBAN: DE31 1002 0500 0003 2135 00
BIC: BFSWDE33BER
Verwendungszweck:
Medizinische Hilfe für Obdachlose