Projekt [U25]: für junge Selbstmordgefährdete ehrenamtlich da
Als es draußen dunkel ist, setzt Lynn (Name geändert) sich in ihrem Arbeitszimmer an den Computer. Sie stellt die Tasse Tee ab und loggt sich in ihren Account ein. Eine neue Nachricht ist da. Sofort klickt sie die E‑Mail an. Was sie findet, ist ein lautloser Schrei nach Hilfe: „Mein Leben hat keinen Sinn. Ich kann nicht mehr.“ Da macht sich Lynn an die Arbeit. Leicht ist der Job der 23-Jährigen nicht: Ihre Klient(inn)en tragen sich mit dem Gedanken, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Lynn hilft ihnen online und anonym, ausschließlich per E-Mail.
Seit einem Jahr engagiert sich die junge Frau im Projekt [U25] der Caritas im oberschwäbischen Biberach. Das Hilfsangebot heißt so, weil es sich an Menschen richtet, die zwischen 16 und 25 Jahren alt sind. Das Besondere dabei: Die Beraterinnen und Berater wie Lynn sind im gleichen Alter, also „Peers“. Daniela Fiedler, die mit ihrer Kollegin Nelli Wilhelm [U25] in Biberach leitet, weiß um die Vorteile dieses Modells: „Peers sprechen dieselbe Sprache wie die Klientinnen und Klienten und finden leichter einen Zugang zu ihnen.“
Konfrontationen mit harter Wirklichkeit
Was enorm wichtig ist. Denn es geht immer um die Frage nach Leben und Tod. Dreizehn Frauen und zwei Männer arbeiten ehrenamtlich im Biberacher Team. Für Gleichaltrige mit Suizidgedanken. Ein hartes Brot? „Am Anfang war es schon belastend; aber je länger ich dabei bin, desto besser kann ich damit umgehen“, sagt Alina (Name geändert) nüchtern. Wobei jede Anfrage anders ist. Alina, beruflich in Ausbildung zur Immobilienkauffrau, bekam E-Mails unterschiedlicher Quantität und Qualität. „Das reicht von einem einfachen ‚Hallo!‘ bis zu seitenlangen Briefen, in denen die Klienten ihre Lebensgeschichte erzählen.“ Das sind bisweilen harte Konfrontationen mit einer harten Wirklichkeit.
Alina ist erst 20, aber schon seit drei Jahren bei [U25]. Etwa 30 junge Menschen hat sie in dieser Zeit begleitet. Durch Täler voller Dunkelheit und Kälte.
Dafür gibt es vorab eine gründliche Schulung. Wie jede/r der insgesamt 40 jungen Ehrenamtlichen, die in Biberach seit 2015 ausgebildet wurden, lernte Alina an drei Samstagen und in sieben Einheiten unter der Woche alles über die verschiedenen Krankheitsbilder, Verhalten in Krisen und mögliche Reaktionen der Klienten. Vor allem aber lernte sie die Kunst, E-Mails richtig zu schreiben. Denn im virtuellen Gespräch mit einem Jugendlichen, der am Abgrund steht, kommt es auf jedes Wort an.
Botschaften zwischen den Zeilen
Im ersten Mail-Kontakt wird der Rahmen abgesteckt. Carina (Name geändert) fragt direkt nach einer Suizid-Absicht. Die 21-jährige gelernte Bankkauffrau liest aus der Mail heraus, wo die Probleme, aber auch die Ressourcen liegen. Manchmal braucht sie eine Stunde, um eine E-Mail zu beantworten, manchmal weniger. Viel Fingerspitzengefühl ist nötig, um das herauszufiltern, was sich zwischen Wörtern und Zeilen verbirgt. Die Hauptamtlichen geben den Peers ein Feedback und damit ein Stück mehr Sicherheit. Rückhalt finden die Ehrenamtlichen auch bei ihren Treffen im Team mit den Hauptamtlichen der Caritas alle zwei Wochen.
Carina, Lynn und Alina verstehen sich in ihrem Ehrenamt nicht so sehr als Beratende, sondern in erster Linie als Zuhörerinnen. Sie wollen ihren Klienten ein offenes Ohr schenken. Sie ernst nehmen. Einfach da sein für sie. Das ist ihnen wichtig. Alina formuliert das so: „Die Klienten können sich ihren Ballast von der Seele reden.“ Carina ergänzt: „Ich lasse die Klienten das sagen, was sie mir sagen wollen. Ohne Druck. Ich höre zu. Und wenn es sein muss, schweigen wir auch zusammen. Hauptsache, es hilft.“
Doch die Geschichten, die die Peers lesen bei ihren durchschnittlich zwei bis vier Arbeitsstunden pro Woche, sind bisweilen recht abgefahren. „Krass“ nennen die jungen Frauen das. Krass, wenn Carina liest, wie sich ein Klient mit der Rasierklinge so tief ritzt, dass Narben zurückbleiben. Der Schmerz erinnert ihn daran, dass er noch lebt. Der Anblick von Blut beruhigt. Gerade dieses Phänomen, das Fachleute „selbstverletzendes Verhalten“ nennen, taucht bei suizid-gefährdeten Menschen oft auf. Solche oder ähnliche Geschichten rütteln schon etwas an den jungen Peers.
Schreck über Statistik ist groß
Außergewöhnlich an [U25] ist die vollständige Anonymität. Weder Lynn noch Alina noch Carina wissen, wer ihnen E-Mails schreibt. Mehr als den obligatorischen Nickname der Ratsuchenden kennen sie nicht. Sie wissen nur das, was die Klienten von sich preisgeben. Zurückverfolgen lassen sich die E-Mails nicht.
„Die Anonymität ist für unsere Klienten gut. Sie können alles erzählen, was sie bewegt; viele würden das in einem Beratungsgespräch nie im Leben tun“, sagt Carina. Der Nachteil der Anonymität: Die [U25]-Beraterinnen und -Berater wissen nie, wie die Geschichte ausging. Was aus ihren Klienten wurde. Ab und an wärmt zwar ein wohliges „Danke, dass du für mich da bist“ die Herzen der Peers. Doch in der Regel bricht irgendwann der Kontakt zum Klienten ab. Und keiner weiß, was nun mit ihm ist. Hat er es geschafft? Ist er tot? Lynn lächelt: „Wäre schon mal nett zu wissen, ob es ihm jetzt besser geht.“ Doch sie sieht es pragmatisch: „Ich gehe einfach davon aus, dass es hilft, wenn ich schreibe.“
Wenn die Peers Bekannten, Mitschülern oder Angehörigen von ihrem Ehrenamt erzählen, erleben sie zweierlei: Lob für ihr Engagement und das Projekt [U25] einerseits – und einen Schock über die Statistik andererseits. Was keiner glauben mag: Rund 10.000 Menschen, darunter 600 Jugendliche, nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben. Das sind mehr als Verkehrstote, Aidsopfer und Drogentote zusammen. So schätzen es Experten. Die jüngsten Klienten, die sich unter www.u25.de melden, sind Kinder. Manche noch keine elf Jahre alt.
Junge Frauen wollen Tabu brechen
Insofern ist der Bedarf an Menschen wie Carina, Alina und Lynn groß. Immer dann, wenn die rund 200 Peers der zehn [U25]-Standorte mit Klienten "eingedeckt" sind, wird die [U25]-Ampel auf Rot gestellt. Klienten erhalten dann nur den Hinweis auf andere Hilfsangebote wie Beratungsstellen oder die Telefonseelsorge. Das grämt Daniela Fiedler sehr: „Es gibt viel mehr Anfragen, als wir beantworten können. Wir haben zu wenige Ehrenamtliche. Unser Ziel ist, die Ampel dauerhaft auf Grün zu stellen.“ Niemand soll verloren gehen. Deshalb betreiben alle [U25]-Standorte viel Öffentlichkeitsarbeit, werben in Schulen und Universitäten, nutzen – zielgruppengerecht – Internet, Facebook, Instagram und einen eigenen Youtube-Kanal.
Warum tun sich Alina, Lynn und Carina eigentlich so etwas an? Ausgerechnet Suizidpräventions-Beratung? Die drei jungen Frauen wirken erstaunlich ruhig und gelassen. Lynn sagt: „Das Thema ist mir wichtig. Es ist ein Tabu, das ich brechen will. In der Schule haben wir nie darüber gesprochen.“ Die 23-Jährige will Lehrerin werden. Für sie steht schon jetzt fest, dass sie mit ihren Schülern über das Thema sprechen will.
Carina braucht nicht lange zu überlegen. Sie, die sich „nebenbei“ noch ehrenamtlich im Kinderhospiz engagiert, hat die Entscheidung, bei [U25] mitzumachen, keine Sekunde bereut: „Jetzt bin ich dabei, weil’s nett ist.“ Alina, die jüngste der drei Frauen, sagt mit ihren 20 Jahren: „Wer als Peer berät, kriegt auch über die Mails viel zurück. Viele bedanken sich. Das macht mich froh.“ Und dann lächelt sie. Haben die drei mit ihrer Online-Hilfe Leben gerettet? Lynn sagt: „Könnte sein, könnte auch nicht sein.“
[U25] in Deutschland
Die erste Online-Beratung zur
Suizidprävention startete 2002 in Freiburg. Mittlerweile gibt
es deutschlandweit zehn Standorte,
an denen sich etwa 230 Ehrenamtliche um circa 1200 Klientinnen und Klienten kümmern.
www.u25.de
[U25] in Biberach:
In Biberach gibt es [U25] seit 2015.
15 Peers (zwei männlich, 13 weiblich),
kümmern sich um 159 Klienten (davon
123 weiblich; 103 neu im Jahr 2018, 825 Kontakte, 2026 Nachrichten).
www.u25-biberach.de