Mut zum interreligiösen Dialog
"Ich bedanke mich, dass Sie mir so oft beigestanden haben, aber jetzt möchte ich aus dem Leben scheiden", sagte die junge Frau am Telefon. "Die Schlaftabletten habe ich mir schon zurechtgelegt." Höchste Alarmstufe bei der Muslimischen Telefonseelsorge. Die ehrenamtliche Mitarbeiterin, die den Anruf entgegen nahm, blieb ruhig. Hörte zu. Stellte Fragen. Und erreichte schließlich, dass die Frau ihre Tabletten entsorgte. Das war vor etwa fünf Jahren. Wenn jedoch der Geschäftsführer der Muslimischen Telefonseelsorge Mohammad Imran Sagir davon erzählt, hört es sich an, als ob es gerade passiert wäre.
Er ist ein Mann mit wachen Augen, festem Händedruck und einer stattlichen Statur. Ein starker Typ, den nichts so schnell umwirft. Mohammad Imran Sagir strahlt jene Mischung aus Ruhe und Zuversicht aus, die Menschen Vertrauen schenkt und sie hoffen lässt. Seine Eltern stammen aus Indien, er ist in Berlin aufgewachsen, studierte BWL und engagierte sich viele Jahre ehrenamtlich in verschiedenen muslimischen Gemeinden. Er ist zum einen Kommunikations- und Verhaltenstrainer und zum anderen Anti-Gewalt- und Kompetenztrainer. Auch eine Seelsorger-Ausbildung hat er absolviert. Mohammad Imran Sagir war dabei, als die Muslimische Telefonseelsorge vor zehn Jahren gegründet wurde. Zunächst ehrenamtlich, inzwischen als Geschäftsführer. Er macht immer noch Telefon-dienste - etwa vier bis sechs im Monat. "Ich will dran bleiben und wissen, was los ist", sagt er. Und das ist eine ganze Menge. Seit das Telefon 2009 zum ersten Mal klingelte, ist die Zahl der Anrufenden stetig gestiegen. Etwa 50.000 Menschen wurden beraten. "Die meisten unserer Ehrenamtlichen sind selbst Muslime, das ist uns wichtig", sagt Mohammad Imran Sagir, "aber wir überprüfen nicht, ob und wie jemand seinen Glauben praktiziert."
Sagirs enger Vertrauter ist Uwe Müller, der Leiter der Kirchlichen TelefonSeelsorge Berlin. Uwe Müller hat die Gründung der Muslimischen Telefonseelsorge vorangetrieben. Immer wieder stellte er fest, dass die Telefonseelsorge der christli-chen Kirchen nicht allen Hilfesuchenden gerecht werden konnte: "Ich fand es für die Anrufenden sehr schwer, wenn die sich aus ihrer Kultur oder ihrer Religion heraus erklären mussten", erzählt er. "Berührungsängste sind geringer und das Vertrauen ist größer unter Menschen mit ähnlichem kulturellem und religiösem Hintergrund", so Müller. Es besteht ein enger Austausch zwischen ihm und Sagir: etwa bei Fortbildungen, Supervisionen und Auswahl der Mitarbeitenden. Uwe Müller staunt über die Offenheit und Begeisterung der Muslime, sich mit religiösen und kulturspezifischen Themen auseinanderzusetzen. "Wir begegnen uns mit Respekt und auf Augenhöhe, ohne jedoch Unterschiede nivellieren zu wollen", sagt Sagir. "Die gibt es durchaus, aber wir finden einen pragmatischen Umgang damit. Wenn das anders wäre, dann wäre das auch nicht zehn Jahre gut gegangen." Die Akzeptanz sei sehr hoch. Auch die muslimischen Gemeinden seien in Kontakt mit MuTes und wollten von der Erfahrung profitieren.
Die meisten Anrufenden seien zwischen 20 und 50 Jahre alt und hätten Probleme mit dem Partner, in der Familie, zwischen den Generationen, aber auch am Arbeitsplatz. Es gehe etwa um Spannungen, Scheidungen, Partnersuche, Süchte und Geldsorgen und um Einsamkeit. 60 Prozent der Anrufenden sind Frauen. "Die Leute, die hier anrufen, sind integriert und leben nicht in einer Parallelgesellschaft", sagt Mohammad Imran Sagir. 95 Prozent der Gespräche werden auf Deutsch geführt, der Rest auf Türkisch und Arabisch. Sagirs Mitarbeitende verpflichten sich auf die Standards der Telefonseelsorge in Deutschland. Alle Mitarbeitende machen eine sechsmonatige Ausbildung mit etwa 160 Stunden. Die Muslimische Telefonseelsorge wird von der Hilfsorganisation Islamic Relief Deutschland getragen und vom Land Berlin gefördert. Der Caritasverband für das Erzbistum Berlin sowie das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz engagierten sich von Beginn an bei der Ausbildung und Qualifizierung der Ehrenamtlichen. MuTes ist ein gutes Beispiel dafür ist, wie Verständnis und Dialog verschiedener Religionen gelingen kann. Die christlich-muslimische Kooperation ist ein wichtiger Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, darüber waren sich Vertreter aus Kirche, Verbänden, Politik und Fachwelt beim zehnjährigen Jubiläum des ersten Muslimischen Seelsorge Telefons in Deutschland einig.
Dann erinnert sich Sagir an seinen ersten Anruf. Eine junge Frau war von einem entfernten Verwandten zweimal vergewaltigt worden und daraufhin nicht mehr in der Lage, zur Schule zu gehen. Mit ihren Eltern konnte sie darüber zunächst nicht sprechen. "Sie hatte das Gefühl, sich nicht ausreichend gewehrt zu haben", erzählt Mohammad Imran Sagir. "Da ging es zunächst darum, sie zu stabilisieren und ihr klarzumachen, dass sie keine Schuld treffe." Danach sagte er ihr, wo sie Hilfe bekommen könnte. "Wird mich denn jemand verstehen, der kein Moslem ist", habe sie gefragt. Da musste Sagir ihr klarmachen, dass sie bei Fachleuten gut aufgehoben sei. Es folgten noch viele weitere Anrufe. "Sehr selten melden sich Leute wieder, die keine Hilfe mehr brauchen", berichtet Sagir. "Diese Frau rief jedoch nach einem Dreivierteljahr an und sagte, es gehe ihr besser." Dafür ist Mohammad Imran Sagir ihr heute noch dankbar. Er weiß, dass seine Hilfe angekommen ist.
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Muslimisches Seelsorge
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