Schnelle Hilfe für Kinder in Not
Kinder aus psychisch- und suchtbelasteten Familien sind nach Jahren des Schattendaseins verstärkt in den Lichtkegel der bundespolitischen Aufmerksamkeit geraten. Dies geschah im Rahmen der praktischen Auseinandersetzung und wissenschaftlichen Spartenforschung. Bevor dieser Punkt erreicht wurde, gingen Jahre ins Land, in denen engagierte Akteur:innen aus verschiedenen Fachbereichen in kleinteiligen und langwierigen Lobbyismusprozessen um die notwendige Aufmerksamkeit und Finanzmittel für Strukturaufbau und Forschung gerungen haben. Sie wollten den entscheidenden Personen die erdrückenden Prävalenzen und daraus folgenden Handlungsbedarfe für den Auf- beziehungsweise Ausbau präventiv wirkender Hilfestrukturen verdeutlichen.1
In der prominent besetzten interministeriellen sowie interdisziplinären Arbeitsgruppe "Kinder psychisch kranker Eltern" erarbeiteten Expert:innen aus Forschung, Praxis, Selbsthilfe sowie Jurist:innen und politische Vertreter:innen in einem mehrjährigen Prozess 19 Empfehlungen, um die Versorgungssituation zu verbessern. Diese Empfehlungen wurden Ende des Jahres 2019 feierlich an den Deutschen Bundestag überreicht. Sie betreffen vor allem Regelungsbereiche, für die das Bundesministerium für Familie, Soziales, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie das Bundesgesundheitsministerium (BMG) zuständig sind.2
Das BMFSFJ befand sich zu diesem Zeitpunkt in den letzten Zügen des weitestgehend parallel laufenden Dialogprozesses "Mitreden-Mitgestalten", der die Grundlage zur umfassendsten Novellierung des SGB VIII seit Jahrzehnten bilden sollte. So wie sich gelegentlich Sonne und Mond zeitweise übereinanderlegen und den:die interessierte:n Betrachter:in mit einem seltenen Naturschauspiel beglücken, befanden sich hier zwei gewichtige Prozesse in einer zeitlichen Linie. Ihnen wohnte in Kombination das Potenzial inne, eine seltene sozialpolitische Umwälzung zu erzielen.
Etwa zweieinhalb Jahre nach dem Bericht der Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern (AG KipkE) und ein Jahr nach Verabschiedung des neuen SGB VIII lohnt sich nun ein Blick auf den geänderten § 20 SGB VIII - Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen. Dieser ist in Verbindung mit den § 36 a, § 79 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII, § 80 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII sowie § 80 Abs. 3 SGB VIII die konkreteste Änderung mit Zuschnitt auf die Zielgruppe der psychisch und suchtbelasten Familiensysteme. Die vorliegende Ausgestaltung ist eindeutig den Empfehlungen der AG KipkE zuzuordnen.
Für eine schnelle Hilfe im Alltag
"Eltern mit einer Sucht- oder einer psychischen Erkrankung fällt es oft schwer, Hilfe für sich und ihre Kinder zu holen. Andere Eltern haben Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung. Das führt dazu, dass viele gute Angebote der Kinder- und Jugendhilfe gerade bei diesen Familien nicht oder nicht rechtzeitig ankommen. Das Gesetz sieht deshalb vor, dass Eltern in einer kurzfristigen Notsituation Hilfe im Alltag erhalten können - zum Beispiel, wenn sie so krank sind, dass sie ihr Kind nicht versorgen und betreuen können: Unterstützung erhalten sie bei einer Erziehungsberatungsstelle - ohne Antrag beim Jugendamt. Von dort wird den Familien eine Fachkraft oder eine ehrenamtliche Patin beziehungsweise ein ehrenamtlicher Pate zur Seite gestellt. Diese Person kann das Kind beispielsweise zur Schule bringen, Essen zubereiten und bei den Hausaufgaben betreuen."3
Dieser kurze Ausschnitt aus der Pressemitteilung erläutert gut die Intention der Gesetzesänderungen. Mit den Änderungen in § 20 SGB VIII sollen also vor allem Familien erreicht werden, die trotz Bedarfs aufgrund von Vorbehalten und Ängsten, schlechten Erfahrungen oder zu hochschwelligen Hilfezugängen bisher keinen Zugang in die Kinder- und Jugendhilfe gefunden haben.4 Die zugrundeliegende Idee dabei ist, das Jugendamt nicht mehr wie bisher als einzigen Zugangsweg für die Gewährung von Hilfeleistungen zu ermächtigen. Vielmehr sollen die Kommunen und Landkreise nun die Möglichkeit (oder sogar den Auftrag?) erhalten, niedrigschwellige Hilfezugänge zu schaffen, "die durch eine Erziehungsberatungsstelle oder andere Beratungsdienste und -einrichtungen nach § 28 zusätzlich angeboten oder vermittelt [werden]" (§ 36 a SGB VIII).
Die (Erziehungs-)Beratungsstellen sollen als tendenziell sozialräumlich orientierte Institutionen den bestehenden Zugangsweg zu kurzfristigen Hilfeleistungen im Sinne des "20er" dadurch nicht ersetzen, sondern ergänzen. Die Kompetenzerweiterung bezieht sich außerdem explizit darauf, Hilfen in Notsituationen zu gewähren. Wenn über diesen Weg Familien in einer häuslichen Krisensituation erreicht werden konnten, sollen sie - so der Gedanke - besser und frühzeitiger als bisher in weiterführende und notwendige Angebote der Kinder- und Jugendhilfe vermittelt werden können, um die weitergehenden Unterstützungsbedarfe gut aufzufangen.5 Eine grundlegend vielversprechende Idee, da ein frühzeitiges Einsetzen der Hilfen den Hilfeerfolg und explizit die Resilienzbildung von Kindern psychisch und suchtbelasteter Eltern begünstigt.6 Damit dies praktisch gelingen kann, müssen jedoch einige Voraussetzungen erfüllt sein und offene Fragen beantwortet werden, von denen hier vier kurz thematisiert werden können.
Wie gelingt den (Erziehungs-)Beratungsstellen die sozialräumliche Öffnung?
Erfolgreiche Sozialraumorientierung der Beratungsstellen bedeutet, dass es gelingt, sich den "sozialen Gegebenheiten und Lebensverhältnissen im Stadtteil oder in den Regionen [zu] öffnen und eine besondere Sensibilität für die Belastungen und Nöte der Menschen dort [zu] entwickeln. Dies setzt die Erarbeitung von Wissen und Kompetenzen für die Besonderheiten
des Sozialraums voraus, für den der Beratungsdienst zuständig ist beziehungsweise für den ein Versorgungsauftrag besteht."7 Unter dieser Voraussetzung muss es gelingen, den Menschen im Zuständigkeitsbereich das neue Angebot vorzustellen und sich als neuer und vertrauensvoller Ansprechpartner zu etablieren.
Qualifizierung der Hilfeerbringenden und Einsatz von ehrenamtlichen Pat:innen
Das Gesetz sieht grundsätzlich die Möglichkeit vor, die Familien auch von ehrenamtlichen Pat:innen versorgen zu lassen. Abhängig vom Unterstützungsbedarf der Familien und der Art und Weise der Notsituation kann das ein gangbares Modell sein. Dennoch gilt für Ehrenamtliche in besonderem Maße, was auch für Fachkräfte der Familienpflege gilt: Neben einem gewissen Erfahrungsschatz sind auch mindestens grundlegende Qualifizierungen notwendig, um sowohl die familiäre Suchtproblematik oder psychisch auffälliges Verhalten wahrnehmen und bewerten zu können und darüber hinaus auch noch darüber sensibel in ein Gespräch zu treten. Vor allem, weil durch die Änderungen Familien erreicht werden sollen, die bisher trotz bestehender Problematik noch keinen Zugang ins Hilfesystem gefunden haben, also häufig ihr Problem noch nicht im professionellen Kontext thematisiert haben.
Vernetzung mit Angeboten über die Kinder- und Jugendhilfe hinaus
Eine gute Vernetzung ist ein Kernelement erfolgreicher Arbeit für suchtbelastete Familien. Es bestehen jedoch nach wie vor verschiedene Systemlogiken und Sprachen zwischen Jugendhilfe, Suchthilfe und medizinischer Versorgung.8 Mit dem Ziel, aus den niedrigschwelligen Angeboten auf weiterführende Angebote verweisen zu können, kommt den Beratungsstellen in einem gewissen Maße eine koordinierende Funktion zu, die mit einigem Engagement und Ressourceneinsatz für Netzwerkaufbau verknüpft sein muss, um dieser Anforderung qualitativ zu entsprechen. Gelingt dies, kann das im Sinne der Familien sehr hilfreich sein, denn die Versorgung psychisch und suchtbelasteter Familien ist erfolgreicher, wenn sie gut abgestimmt wird zwischen den Hilfesystemen und verschiedenen Akteuren.9
Wie agil wird die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Trägern und (Erziehungs-)Beratungsstellen?
Schaut man sich in Deutschland nach Umsetzungsbeispielen um, wird deutlich, dass bisher wenig Praxisbeispiele und vor allem noch viele Suchbewegungen zu verzeichnen sind, die sich vor allem noch auf Ebene der Fachverbände und Landesjugendämter abspielen. Entscheidender Gelingensfaktor einer zielgerichteten Umsetzung wird es sein, wie die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Trägern und Beratungsstellen ins Laufen kommt, welche Qualitätsstandards und Anforderungen formuliert werden und letztlich auch, mit welchen Ressourcen die neue Aufgabe versehen wird. Es ist unbedingt zu vermeiden, dass eine qualitativ hochwertige Umsetzung wieder vor allem den wohlhabenderen Kommunen vorbehalten bleiben wird. Dafür ist es notwendig, dass der Prozess unter Einbezug aller relevanten Akteure - die dabei nicht nur aus der Jugendhilfe stammen müssen - ausgestaltet wird.
Anmerkungen
1. Pfeiffer-Gerschel, T.; Kipke, I.; Flöter, S.; Jakob, L.: Bericht 2013 des nationalen Reitox-Knotenpunkts an die EBDD. Neue Entwicklungen und Trends. Drogensituation 2012/2013. München: Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht DBDD, 2013. Siehe auch: Effertz, T.: Kinder aus Suchtfamilien: die ökonomische Dimension eines kaum beachteten Problems. In: Frühe Kindheit, 17 (1) 2017, S. 35-42.
2. AFET - Bundesverband für Erziehungshilfe e. V.: Abschlussbericht Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern, 2020. Verfügbar unter Kurzlink https://bit.ly/3RkqqKo
3. BMFSFJ: Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenslagen stärken. Meldung vom 7. Mai 2021. Abrufbar unter: https://bit.ly/3E0IVkj
4. Feist-Ortmanns, M.; Macsenaere, M.: Ergebnisbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Dialogprozess "Mitreden - Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe". Berlin: BMFSFJ, 2020.
5. Bundeskonferenz Erziehungsberatung (BKE): Die Bedeutung von § 20 SGB VIII für die Erziehungsberatung. In: Informationen für Erziehungsberatungsstellen 3/2021. Kurzlink: https://bit.ly/3UOfRCz
6. Arnold, J.; Feist-Ortmanns, M.; Schmollinger, T.: Abschlussbericht zur Evaluation der ersten Förderphase des Modellprojekts "Chance for Kids" (CfK). Mainz: IKJ, 2020. Siehe Kurzlink: https://bit.ly/3UKB3Jx; siehe auch Helsper, N.; Kemner, K.; Arnold, J.; Feist-Ortmanns, M.: Steuerwissen und Handlungsorientierung für den Aufbau effektiver interdisziplinärer Versorgungsnetzwerke für suchtbelastete Familien - vorläufiger Abschussbericht. Mainz, 2022. Abrufbar unter: https://bit.ly/3SmTgvc
7. Frieling, I.; Lenz, A.: Jeder lebt in seiner Welt und alle im Sozialraum. In: neue caritas Heft 8/2012, S. 11. Abrufbar unter: https://bit.ly/3SlBacZ
8. Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) (Hrsg.): Jugendhilfe und Suchthilfe gemeinsam für den Kinderschutz. Fragen und Diskussionen - aus der Praxis für die Praxis. Eine Arbeitsgruppen-Dokumentation. Münster, 2020. Verfügbar unter https://bit.ly/3SlBTuG; siehe auch Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin e. V. (DGKiM) (Hrsg.): Präventiver Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern. Leitfaden für Fachkräfte im Gesundheitswesen, Köln, 2020. Verfügbar unter https://bit.ly/3UPhj7t
9. Siehe Arnold, J., a. a. O.
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