Digitale Bildung muss die Menschen in ihrem Lebensumfeld abholen
Frau Professor Helsper, welche Auswirkungen hat digitale Technologie auf soziale Ungleichheiten?
Mit der rasanten Digitalisierung zahlreicher Lebensbereiche werden bereits benachteiligte Menschen tendenziell noch stärker benachteiligt. Selbst wenn sie digitale Zugänge haben, fehlt das Wissen, sie zu nutzen. Allein schon aufgrund der Art, wie Technologie entworfen wird, werden Menschen zurückgelassen.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Betrachten wir eine:n Jugendliche:n aus einem bildungsfernen Haushalt. Wenn die Familie Zugang zu Technologie hat, hat sie oft Probleme, diese zu verstehen oder sie zu erlernen. Daher kann der junge Mensch nicht von den Eltern unterstützt werden. Wer aus einem Hintergrund kommt, wo die Eltern unterstützen können, ist wahrscheinlich viel erfolgreicher und selbstsicherer.
Glauben Sie, dass die Pandemie das noch verschlimmert hat?
Pädagogen stellten mit Schrecken fest, dass die Geräte von benachteiligten Kindern oft nicht gut genug waren, um an irgendetwas teilnehmen zu können. Und das ist noch schlimmer geworden. Schlimm war auch, dass man ganz auf die Ressourcen im eigenen Haushalt angewiesen war, anstatt Ressourcen in der Schule oder in der Umgebung nutzen zu können. Es gibt also systematische Unterschiede in der Möglichkeit und Fähigkeit, Informations- und Kommunikationstechnologien zu nutzen. Digitale Ungleichheit kann daher nicht allein als individuelles Problem betrachtet werden.
Können Sie die Auswirkungen auf Systemebene erklären: Wie sind Sie zu diesen Ergebnissen gekommen?
Unsere Forschung zeigte, dass Individuen mit den gleichen Fähigkeiten und den gleichen Zugangsniveaus immer noch ganz unterschiedliche Ergebnisse bei der Nutzung von Technologie hatten. Das bedeutet, dass beispielsweise die Umgebung, in der sie leben, und die Ressourcen der Menschen um sie herum am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft eine wichtige Rolle spielen. Die Unterschiede im Lebensumfeld, welche Art von Ressourcen verfügbar sind und die systematischen Unterschiede in den Ressourcen, die jemand hat, tragen zu einem positivem oder negativem Ergebnis bei. Und das ist das Systematische dabei.
Aufgrund der systematischen Ungleichheiten kommen Sie in Ihren Publikationen zu dem Schluss, dass es eine "kollektive Verantwortung" gibt. Muss die Caritas auf diese Verantwortung antworten und wenn ja, wie?
Bei vielen Interventionen entsteht ein großer Druck auf die Benachteiligten: dass sie aufholen müssen, dass sie geschult werden müssen und dass sie die richtige Einstellung zu Technologien bekommen müssen, damit sie Teil dieser Gesellschaft sein können. Wir bieten ihnen Kurse an und wenn sie nicht mitkommen, ist es scheinbar ihre Schuld. Es kann aber nicht sein, dass jedes Individuum seinen eigenen Kampf mit den digitalen Herausforderungen führen muss. Ein Teil davon muss auf der kollektiven Ebene geschehen. Die einzige Möglichkeit, etwas wirklich zu ändern, ist die Zusammenarbeit mit Organisationen wie der Caritas. Sie ändern den Rahmen. Man kann nichts gegen Ungleichheit tun, indem man nur das Digitale anpackt. Es braucht Organisationen wie die Caritas, um die Rahmenbedingungen zu ändern, um Dienstleistungen für größere Gruppen zu erbringen, aber auch, um in der Gesellschaft im Allgemeinen ein Bewusstsein für diese Art von Ungleichheit zu schaffen. Es ist nicht nur an den Benachteiligten, aufzuholen. Es liegt bei uns allen, eine digitale Umgebung zu schaffen, an der jede:r teilnehmen kann. Das muss durch Interessenvertretung und Lobbyarbeit geschehen. Man muss darauf aufmerksam machen, dass es Ungleichheiten gibt und diese durch die Digitalisierung verstärkt werden.
Wie kann das konkret aussehen?
Wir haben alle eine Verantwortung und müssen darüber nachdenken, wie Technologien entworfen werden. Wir müssen mit den Entwickler:innen sprechen und mit politischen Entscheider:innen. Das kann viel mehr bewirken als auf der individuellen Ebene, wo der Einzelne für den Aufholprozess verantwortlich ist.
Die andere Art der kollektiven Verantwortung besteht darin, dass Organisationen ein Bewusstsein für die richtigen Inhalte und die richtigen Dienste schaffen. Oder dass sie Freiwillige aktivieren, die mit benachteiligten Menschen interagieren und sich für sie einsetzen. Die andere Sache ist, dass all unser digitales Verhalten Einfluss darauf hat, wie andere Menschen teilnehmen können. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass unser ganzes digitales Agieren bestimmte Türen schließt und andere für das Internet der Zukunft öffnet. Und wir müssen mehr die Inhalte berücksichtigen, die von benachteiligten Menschen selbst erstellt wurden.
Haben Sie ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine Organisation digitale Ungleichheiten überwunden hat?
Es hängt stark vom Kontext ab, ob etwas gut funktioniert. Man muss die lokalen Gegebenheiten betrachten, die bestehenden Muster der Ungleichheit in einer bestimmten Gemeinschaft oder Stadt, einem Land oder gar einer Familie. In Großbritannien gibt es die "The Good Things Foundation", eine Dachorganisation. Sie kooperiert mit Kommunen und will dort Bewusstsein für die digitalen Probleme schaffen. So hat beispielsweise ein Gemeinderat in einer Bibliothek Digitalkurse angeboten. Sie wollten den Leuten technische Fähigkeiten vermitteln und dachten, die Bibliothek könnte ein guter Ort sein. Am Anfang war es erfolgreich. Die Leute kamen. Sie bekamen kostenlos Tee und Kekse. Aber dann merkte man, dass die Leute ausblieben - und erkannte, dass man nur einen Teil der Klientel erreichte. Und dass Leute, die wirklich benachteiligt und zögerlicher sind, nicht kommen würden. Den Stiftungsleuten wurde klar, dass man die Leute am besten an ihnen vertrauten Orten erreicht, zum Beispiel nach dem Gottesdienst oder beim Bingospielen.
Erst kommt also die soziale Verbindung, dann aber auch die digitale. So konnten Berührungsängste besser überwunden werden, anstatt den Leuten digitale Technologien aufzudrängen. Das war ein ziemlicher Erfolg. Weitere Leute kamen hinzu. Sie schauten den anderen über die Schulter und dann erklärten sie es sich gegenseitig. Hier war die digitale Technologie keine rein instrumentelle Sache mehr, sondern schaffte auch Gemeinschaft. So lernten sie in ihrer vertrauten Umgebung digitale Werkzeuge zu nutzen, mit denen sie ihre Lebensverhältnisse verbessern können.
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