Wohlfahrt als Plattform
Online-Plattformen sind zum Leitmedium der digitalen Gesellschaft geworden. Sie bilden die zentrale Kommunikationsinfrastruktur, in der Menschen sich begegnen und Informationen austauschen. Besonders deutlich wurde das während der Coronapandemie. Online-Bestellungen schossen in ungeahnte Höhen, aber auch der Schulbesuch, der Yoga-Kurs, der Kontakt zur öffentlichen Verwaltung oder Arzt-Sprechstunden waren für viele Menschen zeitweise nur noch über Online-Plattformen möglich. Selbst bei totaler Isolation in der häuslichen Quarantäne sorgten diese dafür, dass Menschen weiter sozial teilhaben konnten.
Diese sogenannte "Plattformisierung" der Gesellschaft ist das Ergebnis einer technologischen Entwicklung, die sich bereits in den 70er- und 80er-Jahren andeutete. Mit der Einführung des Computers in Betrieb und Verwaltung wurden immer mehr ökonomische und soziale Prozesse digital erfasst und algorithmisch verarbeitet. Internet und Smartphone sorgten später dafür, dass die Computer immer mobiler und vernetzter wurden, so dass fast jeder unserer Schritte gespeichert wird. Der Soziologie Armin Nassehi1 spricht hier von einer "digitalen Verdopplung" der Welt, in der sich die gesammelten Informationen der Menschheit zu einer globalen Datenschicht zusammenfügen. Digitale Plattformen sind die technologischen Träger dieser Datenschicht, indem sie Informationsflüsse erfassen, sortieren, automatisieren und standardisieren. Sie entscheiden, wer welche Information erhalten soll, und entfalten so eine besonders mächtige Form von algorithmischer Kontrolle mit Chancen und Risiken.
Auswirkungen der plattformbasierten Digitalisierung
Wie aber wirkt sich die plattformbasierte Digitalisierung auf die Caritas und die freie Wohlfahrtspflege aus? Zunächst kann man die Caritas selbst als ein einziges großes Datenverarbeitungssystem betrachten, in dem analoge Arbeits- und Kommunikationsprozesse zunehmend digital erfasst und online abgespeichert werden, damit beispielsweise Kolleg:innen oder externe Dritte darauf zugreifen können. Auch die Sozialarbeit mit engem Menschenkontakt wird zunehmend "hybrid" und in digitale Strukturen eingebettet, wie die elektronische Patientenakte oder eine Management-Software. Dieser Prozess erfordert eine strategische Governance von Daten, bei der - neben wichtigen Fragen zu Datenschutz und Datensicherheit - insbesondere entschieden werden muss, zwischen welchen Akteur:innen welche Informationen geteilt werden sollen.
Die Governance von Daten wird umso wichtiger, je mehr sich die Wohlfahrtsträger öffnen und die Kommunikation mit Hilfesuchenden und Partnerorganisationen zunehmend über digitale Plattformen läuft. Ein gutes Beispiel ist die Sozialplattform des Landes NRW, die einen gebündelten Onlinezugang zu vielen sozialen Diensten bietet (https://sozialplattform.de) und demnächst bundesweit verfügbar werden soll. Kitas, Seniorenwohnheime und andere Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände müssen dann dafür Sorge tragen, dass ihre Angebote online mit allen relevanten Informationen (Ansprechpartner, Verfügbarkeit, Kosten etc.) auffindbar und möglichst direkt buchbar sind. Ein weiteres Beispiel ist die neue Online-Beratungsplattform der Caritas. Auch hier wurde eine neue technische Kommunikationsschnittstelle entwickelt, mit der ausgewählte Daten der Klient:innen erfasst und an passende Berater:innen weitergegeben werden. Staatliche und freie Wohlfahrtsträger treten auf diese Weise in direkte Konkurrenz zu zahlreichen kommerziellen Plattformanbietern für Altenpflege oder Beratung, die einen Gewinn aus der Koordination von sozialen Dienstleistungen ziehen wollen.
Die Bedürfnisse des Menschen stehen im Mittelpunkt
In allen drei Fällen zeichnet sich - mit Blick auf den:die "User:in" - das Leitbild einer digital-integrierten Sozialversorgung ab. Der Mensch mit all seinen persönlichen Bedürfnissen soll zukünftig im Mittelpunkt stehen und stets das für sich passende Angebot auswählen können. Die einzelnen Leistungen der Wohlfahrtsträger müssen zu diesem Zweck besser vernetzt und in ein gemeinsames Ökosystem eingebunden werden, das von einem beliebigen Endgerät aus zentral zugänglich ist. Hier wird Wohlfahrt selbst zur Plattform, die das Versprechen in sich trägt, Unsicherheiten und räumliche Barrieren für Bedürftige abzubauen sowie Prozesse zeitgemäß und effizient zu gestalten. Der Politikwissenschaftler Frank Nullmeier weist jedoch zu Recht darauf hin, dass die Plattformfähigkeit der freien Wohlfahrt - also die "Umstellung der Geschäftsprozesse auf Dienste, die auf Plattformen angeboten und vertrieben werden" - eine umfassende organisatorische Transformation bedeutet, die eine vorausschauende "sozial(politisch)e Plattformstrategie"2 erfordert: Wer soll die Plattform entwickeln und verwalten? Welche Dienstleister sollen Teil der Wohlfahrtsplattform sein und welche nicht? Wer entscheidet über Datenzugang und -weitergabe? Welche Datenstandards werden verwendet? Wie lässt sich dabei das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung schützen?
Informationen für Klient:innen sollten jederzeit verfügbar sein
Im Zentrum einer Plattformstrategie für die freie Wohlfahrt muss die Nachfrageseite stehen, das heißt die einzelnen Klient:innen mit ihren besonderen Bedürfnissen. Das Ziel besteht darin, ihnen für den gesamten Versorgungsprozesses eine optimale digitale Begleitung anzubieten: Von der Google-Suche nach möglichen Hilfsangeboten über die Plattform-Registrierung, die Auswahl, Anmeldung und Inanspruchnahme von Diensten bis hin zur Nachsorge sollten Klient:innen jederzeit alle nötigen Informationen erhalten, die ihnen Unterstützung und Orientierung bieten können. Die selbstbestimmte Auswahl- und Kombinationsmöglichkeit von Angeboten, eine personalisierte Vorauswahl von Informationen (Gefahr von "information overload") sowie eine hohe Responsivität vonseiten der Dienstleister ist dabei entscheidend für das Wohlbefinden der Klient:innen. Eine auf diese Weise digital-integrierte Versorgung setzt technisch betrachtet eine standardisierte Falldokumentation beziehungsweise eine elektronische Klientenakte voraus, auf die alle teilnehmenden Einrichtungen fallbezogen zugreifen und die für sie relevanten Daten einsehen und bearbeiten können.
Ein zweiter Fokus der Plattformstrategie sollte dementsprechend auf der Angebotsseite liegen, das heißt auf einer besseren internen und externen Vernetzung der Dienste durch das Teilen von Daten. Für ihre interne Vernetzung sollten die Wohlfahrtsverbände Digitalisierungsimpulse aus der Praxis aufnehmen und bei den jeweiligen Arbeits- und Kommunikationsprozessen von Mitarbeiter:innen ansetzen. Für jede Tätigkeit lassen sich dabei spezifische klientenbezogene Informationen ausmachen, die idealerweise auch von Kolleg:innen und anderen Einrichtungen bearbeitet werden können, falls zum Beispiel eine Kollegin krank wird oder der Klient umzieht. Neben einer elektronischen Klientenakte mit ausgefeiltem Rechtemanagement bedarf es hier insbesondere einer vorausschauenden, softwaregestützten Implementation der digitalen Datenverarbeitung in die analogen Arbeitsprozesse, damit die einzelnen Versorgungsleistungen bedürfniszentriert aufeinander abgestimmt werden können.
Standardisierung und Vernetzung als Herausforderung im OZG
Andererseits ist eine solche datenbasierte Standardisierung auch für die externe Vernetzung mit den Kommunen oder anderen sozialen Dienstleistern eine große Herausforderung. So digitalisieren Kommunen im Zuge der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) aktuell ihre Verwaltungsleistung und entwickeln standardisierte Antragsverfahren, die auch für die freie Wohlfahrt zunehmend relevant werden (siehe: Sozialplattform in NRW). Wird der Kita-Platz beispielsweise über eine zentrale kommunale Plattform buchbar, wie es in München bereits möglich ist, dann müssen sich die einzelnen Kindertagesstätten auf einen standardisierten Datenaustausch mit der Plattform verlassen können. Hier scheint es für die freie Wohlfahrtspflege hilfreich, möglichst bald in die laufenden OZG-Umsetzungsprozesse zu intervenieren, damit auch die Informationsbedarfe ihrer Mitarbeiter:innen bei der Standardsetzung berücksichtigt werden. Auch bei der weiteren Gestaltung von kommunalen Sozialplattformen sollte die Expertise der freien Wohlfahrt einbezogen werden.
Zudem empfiehlt es sich für große Wohlfahrtsverbände wie die Caritas, die Entwicklung einer eigenen Wohlfahrtsplattform zu prüfen, in die andere freie Träger oder auch externe kommerzielle Anbieter eingebunden werden können. Das Ziel der integrierten Versorgung aus einer Hand überschneidet sich hier mit dem Grundsatz der digitalen Souveränität für eine selbstverwaltete, freie Wohlfahrtspflege. Die (Weiter-)Entwicklung der Plattform, die Definition der Schnittstellen zu den Dienstleistern sowie die Hoheit über die Daten stellen dabei digitale Kernkompetenzen dar, die bestenfalls bei den Wohlfahrtsverbänden selbst angesiedelt sind, um die Kommunikation mit den Klient:innen stets an die wechselnden Bedürfnisse spezifischer Klientengruppen anzupassen und eine strukturelle Abhängigkeit von privaten Intermediären zu verhindern. Auch stehen die Wohlfahrtsverbände bei den Klient:innen in der Verantwortung, effektiven Datenschutz zu gewährleisten zu können, was eine weitgehend souveräne Datenkontrolle voraussetzt.
Nur mit Personalstrategie und genügend Finanzen
Ein dritter Fokus der Plattformstrategie sollte auf den organisationalen Voraussetzungen für eine digital-integrierte Wohlfahrtspflege liegen. So erfordert der Aufbau von digitalen Kernkompetenzen eine gezielte Personalstrategie sowie eine ausreichende finanzielle Grundlage zum Aufbau von digitalen Infrastrukturen. Hinsichtlich der Koordination des digitalen Wandels können Wohlfahrtsverbände viel von der OZG-Umsetzung in den Kommunen lernen: So sollten einige Steuerungsaufgaben, wie die Definition von Datenstandards, möglichst zentral beim Management angesiedelt sein, wobei die konkrete Umsetzung und Entwicklung von digitalen Tools auch dezentral und arbeitsteilig erfolgen kann. Die Kommunen setzen hier auf das Prinzip "Einer für alle" (EfA), bei dem eine Verwaltungsleistung zunächst auf Open-Source-Basis von einer Stadt oder einem Bundesland eigenständig entwickelt wird, um dann nach erfolgreicher Prüfung bundesweit von den anderen Kommunen übernommen zu werden.
Damit dies gelingt, bedarf es einer Kultur des stetigen Experimentierens und Vorantastens sowie einer engen Zusammenarbeit mit den Stakeholdern. Nur wenn die Partizipation und Feedbackkreisläufe von Mitarbeiter:innen und Kooperationspartner:innen gewährleistet sind, können Plattformen und Softwarelösungen kontinuierlich an wechselnde Bedarfe angepasst werden, um den digitalen Wandel zur integrierten Wohlfahrtspflege zu meistern.
Anmerkungen:
1. Nassehi, A.: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München: C. H. Beck, 2019.
2. Nullmeier, F.: Digitalisierung in der Sozialpolitik und die Wohlfahrtsverbände. In: Lühr, H. (Hrsg.): Digitale Daseinsvorsorge, Bremer Gespräche zur digitalen Staatskunst. Bremen: Kellner Verlag, 2020.
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