Kirche soll Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit gerecht werden
Die sexualpädagogische Arbeit katholischer Schwangerschaftsberatung hat das Ziel, Menschen zu helfen, ihre Sexualität und Geschlechtlichkeit verantwortungsvoll zu leben. Sie orientiert sich an professionellen Standards, einem umfassenden Verständnis von Sexualität, christlichen Grundsätzen, ethischen Werten und der konkreten Lebenswelt der Menschen, die die Angebote der Schwangerschaftsberatung in Anspruch nehmen.2 Berater(innen) machen dabei immer wieder die Erfahrung, dass normative Forderungen der katholischen Morallehre nicht als lebensdienliche Orientierungshilfe wahrgenommen werden, wenn sie der Bedeutungsfülle der menschlichen Sexualität und den Varianten sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität nicht gerecht werden. Sie erleben eine zum Teil erhebliche Diskrepanz zwischen den Erwartungen und Lebenswelten der Ratsuchenden und den Vorgaben kirchlicher Dokumente. Eine katholische Sexualpädagogik, die sich bloß an den traditionellen Normen orientiert und auf ihre Befolgung drängt, hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als unfähig erwiesen, in der modernen Welt von Sexualität und Geschlechtlichkeit auf Resonanz zu stoßen.3 Weil die kirchlichen Normen (Verurteilung nichtehelicher Sexualität und von Empfängnisverhütung) sich nicht mehr plausibel mit dem Liebesgebot verknüpfen lassen, bleiben sie wirkungslos und sind zu revidieren.4
Die Beratungstätigkeit in Schwangerschaftsfragen "gehört zum Selbstverständnis und zum eigenen Auftrag der katholischen Kirche"5 . Menschen in Notlagen sind "zu begleiten und zu stützen"6 . Nach dem kirchlichen und dem gesetzlichen Auftrag umfasst das Recht auf Beratung auch eine Beratung in "Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung"7 , die nach ethischen Maßstäben einer verantwortlichen Lebensführung dienen soll. Wer anderen durch Beratung helfen will, muss ihrer Lebenssituation gerecht werden und sich auf komplexe Wirklichkeiten und Problemlagen einlassen können.
Die Lehre der Kirche muss lebensdienlich sein
Die kirchliche Morallehre soll, so formuliert es das Impulspapier, für diejenigen verantwortbar und vertretbar sein, die im caritativen Dienst der Kirche stehen und in ihrer Praxis Ratsuchenden in verschiedenen Lebenswelten und -situationen begegnen. Und sie soll für diejenigen lebensdienlich und annehmbar sein, die in womöglich schwierigen Lebenssituationen nach für sie realistischen Handlungsmöglichkeiten suchen und sich ein gutes Urteil bilden wollen.
Woran kann sich eine als notwendig und überfällig erachtete Revision kirchlicher Sexualmoral orientieren? Das Impulspapier der AG Schwangerschaftsberatung des Deutschen Caritasverbandes (DCV) und des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) weist darauf hin, dass die Freude an der in einem verbindlichen Liebesverhältnis gelebten Sexualität nach dem heutigen katholischen Verständnis dem Plan Gottes entspricht. Die Sexualität ist für den Menschen etwas Gutes und Schönes, wenn sie human gelebt wird: "Gott selbst hat die Geschlechtlichkeit erschaffen, die ein wunderbares Geschenk für seine Geschöpfe ist. Wenn man sie kultiviert und ihre Zügellosigkeit vermeidet, dann um zu vermeiden, dass es zu einer ‚Verarmung eines echten Wertes‘ (Johannes Paul II.) kommt."8
Es gibt einen Wandel moralischer Standards
Als moralische Instanz wird die Kirche wahrgenommen, wenn ihren Aussagen anzumerken ist, dass sie die "Zeichen der Zeit", die "im Licht des Evangeliums zu deuten"9 sind, erkannt hat. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass wir es im Bereich der Sexualität bei allen irritierenden und beklagenswerten Phänomenen ("Banalisierung der Sexualität") mit einer Versittlichung zu tun haben, insofern die Prinzipien der freien, wechselseitigen Rücksichtnahme und der Gleichberechtigung der Geschlechter hohe Wertschätzung genießen. Es gibt einen Wan[1]del, nicht ein Verschwinden von moralischen Standards. Die menschliche Qualität einer verbindlichen Beziehung wird zum aus[1]schlaggebenden Bezugspunkt in der Sexualmoral. Das Impulspapier erinnert daran, dass die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland ("Würzburger Synode") bereits Mitte der 1970er-Jahre fest[1]gehalten hat: "Für die Gestaltung und Ausformung der sexuellen Beziehungen können alle jene natürlichen Handlungen als gut und richtig angesehen werden, die der Eigenart der beiden Partner entsprechen und in gegen[1]seitiger Achtung, Rücksichtnahme und Liebe geschehen."10
Daran gilt es anzuschließen. Die menschlichen Sinndimensionen von Sexualität (Identität, Sinnlichkeit, Beziehung, Fortpflanzung) sind im Handeln des Einzelnen und des Paares zu bejahen und immer wieder aufs Neue auszubalancieren. Der Umgang mit der eigenen Sexualität und ihren Dimensionen soll sowohl entwicklungsspezifisch selbstbestimmt als auch verantwortungsvoll sein. In der Beratung bedarf es des "differenzierenden Blickes auf die jeweilige Lebenssituation der Menschen. ,Daher sind Urteile zu vermeiden, welche die Komplexität der verschiedenen Situationen nicht berücksichtigen (Amoris laetitia Nr. 296)‘."11
In existenziell schwierigen Situationen ist zu einem Handeln zu ermutigen, das dem Geflecht menschlicher Verantwortlichkeiten gerecht wird und dem jeweiligen Können von Personen Rechnung trägt. Empfängnisverhütende Methoden sollten etwa danach beurteilt werden, ob sie in der konkreten Situation einer Person und eines Paares sicher, praktikabel, gesundheitsverträglich, einvernehmlich und in Rücksicht auf die Sinndimensionen der Sexualität anwendbar sind. Die Arbeit der Beratungsstellen im Bereich der Sexualpädagogik ist darauf ausgerichtet, Menschen in ihrer sexuellen Handlungs- und moralischen Urteilskompetenz zu unterstützen und zu stärken. Eine mögliche Kurzformel für die ethische Orientierung katholischer Sexualpädagogik könnte lauten: Sexualität soll liebevoll in partnerschaftlichen Beziehungen "von Person zu Person"12 gelebt werden.
Das Impulspapier hält fest: Die christliche Sexualmoral soll in der Beratungstätigkeit Orientierung vermitteln und sich durch einen menschenzugewandten Realismus auszeichnen. In der Beratungstätigkeit sollen Menschen in ihrer individuellen Lebenssituation zu einer erfüllenden, verantwortlichen und mitmenschlich respektvollen Gestaltung ihrer Sexualität ermutigt und befähigt werden. Verhältnissen, in denen Menschen Formen sexualisierter Gewalt erleiden, ist entgegenzutreten. Haltungen und Strukturen, die verletzende Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern produzieren, sind zu kritisieren und zu überwinden.
Anmerkungen
1. Download unter www.caritas.de, Kurzlink: https://bit.ly/3yUyfO2
2. Vgl. SkF/DCV (Hrsg.): Konzeption für die sexualpädagogische Arbeit im Rahmen der Katholischen Schwangerschaftsberatung. Freiburg i. Br., 2010. Download unter www.skf-zentrale.de/veroeffentlichungen/arbeitshilfen/arbeitshilfen (Rahmenkonzeption Sexualpädagogik)
3. Vgl. Mildenberger, F. B.: Katholische Sexualpädagogik im 20. Jahrhundert - ein Überblick. In: Sexuologie 27 (2020), S. 145-150
4. Vgl. Schockenhoff, E.: Die Kunst zu lieben. Unterwegs zu einer neuen Sexualethik. Freiburg i. Br.: Herder, 2021.
5 . Bischöfliche Richtlinien für katholische Schwangerschaftsberatungsstellen vom 29. September 2000. Z. B. in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Mainz 142. Jg. (2000) Nr. 10, S. 91-93, hier S. 91
6. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Wort der Deutschen Bischöfe. "Die Freude der Liebe, die in den Familien gelebt wird, ist auch die Freude der Kirche". Einladung zu einer erneuerten Ehe- und Familienpastoral im Lichte von Amoris laetitia. Bonn, 2017, S. 11.
7. Siehe Bischöfliche Richtlinien (s. o. Anm. 5) § 1 Abs. 3; Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz) § 2.
8. Franziskus: Amoris laetitia Nr. 150, 2016
9. Zweites Vatikanisches Konzil: Gaudium et spes Nr. 4
10. Synodenbeschluss Christlich gelebte Ehe und Familie Nr. 2.2.1.3. In: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Offizielle Gesamtausgabe. Neuausgabe Freiburg i. Br., 2012, S. 434.
11. Wort der Deutschen Bischöfe. "Die Freude der Liebe, die in den Familien gelebt wird, ist auch die Freude der Kirche" (s. o. Anm. 6), S. 13 f
12. Zweites Vatikanisches Konzil:: Gaudium et spes Nr. 49, 1965.
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