Reform der Kinder- und Jugendhilfe
Das Recht der Kinder- und Jugendhilfe, im Achten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) normiert, soll reformiert werden. Die Bundesländer fordern dies seit Jahren. Die Verzahnung mit den Regelsystemen - zum Beispiel den Schulen oder Kindergärten - soll besser werden. Präventive Leistungen und infrastrukturelle Angebote sollen ausgebaut werden. Das Fachkonzept der Sozialraumorientierung soll flächendeckend implementiert werden. Die sogenannte "inklusive Lösung" wird von einigen Ländern gefordert, andere sind zurückhaltend. Der Handlungsdruck vonseiten der Länder ist nicht nur fachlich motiviert. Er steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung.
Konfliktfeld Kostenanstieg
Im Jahr 2017 wandten die Jugendämter insgesamt 12,53 Milliarden Euro für Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, Hilfe für junge Volljährige und vorläufige Schutzmaßnahmen nach §§ 27 ff., 41, 42 SGB VIII auf.1 Hierbei gab es in den vergangenen Jahren eine dynamische Entwicklung: Die Nettoausgaben (also nach Abzug der Einnahmen) nur für die Hilfen zur Erziehung und sonstige Einzelfallhilfen betrugen im Jahr 2000 noch 4,9 Milliarden Euro, 2015 aber schon 10,3 Milliarden Euro.2 Diese Entwicklung hat ungeachtet ihrer vielfältigen Gründe maßgeblich dazu beigetragen, dass die Reform des SGB VIII auf die politische Agenda kam.
Die aus dem fiskalischen Interesse gespeiste Debatte ist nicht ohne weiteres von einem zweiten Diskussionsstrang zu unterscheiden, der die derzeitige Struktur der Einzelfallhilfen in der Kinder- und Jugendhilfe aus fachlichen Gründen infrage stellt.3 Diese fachliche Argumentation wird auch herangezogen, um die Finanzierungsstruktur des jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses grundsätzlich infrage zu stellen.4
Dabei wird immer wieder darauf verwiesen, dass die Inanspruchnahme einzelfallbezogener Hilfen zur Erziehung eine hohe Korrelation zu bestimmten Lebenslagen aufweist, die mit erheblichen Benachteiligungen einhergehen, insbesondere mit dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II und mit dem Umstand, dass in einer Familie nur ein Elternteil lebt.5 Beide Faktoren weisen eine hohe Überschneidung auf: Ein sehr hoher Anteil der Alleinerziehenden bezieht Leistungen nach dem SGB II (etwa 40 Prozent).6 An diese Beobachtung wurde der Vorwurf geknüpft, das System der Kinder- und Jugendhilfe fungiere als Ausfallbürge für eine insuffiziente Politik der Armutsbekämpfung. Es sei aber nicht Aufgabe des SGB VIII, die Mängel des Rechts der wirtschaftlichen Grundsicherung zu kompensieren.
Ein SGB VIII für alle?
Das SGB VIII kannte in seiner ursprünglichen Fassung zunächst keine Teilhabeleistungen für junge Menschen mit einer Behinderung. Erst mit der Einführung von § 35 a SGB VIII7 zum 1. April 1993 wurden die Jugendämter auch für die Eingliederungshilfe zuständig - allerdings nur dann, wenn der teilhabeleistungsrechtliche Bedarf auf einer seelischen Behinderung beruhte. Junge Menschen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung haben noch bis 31. Dezember 2019 einen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem Recht der Sozialhilfe (SGB XII). Ab dem 1. Januar 2020 haben sie einen Anspruch nach dem neuen zweiten Teil des SGB IX, der mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) geschaffen wurde.
Das BTHG hat das Abgrenzungsproblem, das seit der Einführung von § 35 a SGB VIII die Gemüter bewegt, fortgeschrieben und der Lösung durch einen künftigen Gesetzgeber überantwortet. Der Gesetzgeber des BTHG ging allerdings davon aus, dass diese Lösung bald kommt. Er hat deshalb die Teilhabeleistungen für junge Menschen so wenig wie möglich angefasst: Das BTHG umfasst für die Eingliederungshilfe für junge Menschen nur die ganz unvermeidbaren Anpassungen und belässt möglichst viel beim Alten.8 Die großen Probleme, die die Abgrenzung zwischen beiden Systemen in der Praxis nach sich zieht, bestehen damit fort. Die Frage, ob die Eingliederungshilfe für junge Menschen mit Behinderung im SGB VIII zusammengeführt werden soll, wird unter dem Schlagwort "Inklusive Lösung" diskutiert.
Reformprozess der jüngeren Vergangenheit
In der vergangenen Legislaturperiode, in der auch das BTHG zustande kam, brachte das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) einen Entwurf für eine Reform des SGB VIII auf den Weg, in dessen Zentrum eine deutliche Begrenzung der Rechtsansprüche auf Hilfen zur Erziehung stand sowie die Einführung eines freien Beschaffungsermessens (einschließlich der Öffnung aller Leistungen für das Recht der Vergabe öffentlicher Aufträge) für die Jugendämter. Dieser Entwurf wurde heftig kritisiert und Ende 2016 vom BMFSFJ zurückgezogen.9
Im März 2017 und damit am Ende der letzten Legislaturperiode legte das Ministerium dann einen abgespeckten Entwurf vor, der als Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) in den Gesetzgebungsprozess eingebracht wurde, dort erhebliche Veränderungen erfuhr und schließlich vom Bundestag verabschiedet wurde. Der Bundesrat stimmte allerdings nicht zu, bevor der Bundestag neu gewählt wurde, so dass das KJSG nicht in Kraft trat.
"Mitreden - Mitgestalten" - der gegenwärtige Reformprozess
Die Koalitionspartner der derzeitigen Bundesregierung vereinbarten in ihrem Koalitionsvertrag, die Reform des SGB VIII auf der Grundlage des KJSG wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Vor drei Jahren war das BMFSFJ heftig kritisiert worden, weil es einen Reformentwurf entwickelt hatte, ohne den Austausch mit der Fachwelt zu suchen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung stellte das Ministerium nunmehr einen breit angelegten Dialog- und Beteiligungsprozess an den Beginn der nächsten Reformrunde. Es beauftragte ein Konsortium aus drei Unternehmen damit, unter dem Titel "Mitreden - Mitgestalten" nicht nur die Fachwelt, sondern auch Betroffene und ihre Angehörigen in die Reformpläne einzubeziehen.10
Im Zentrum des Prozesses steht die Arbeitsgemeinschaft Mitreden - Mitgestalten, der mehr als 70 Personen angehören.11 In dieser AG sind alle Bundesländer, die kommunalen Spitzenverbände, die Wissenschaft, der Deutsche Behindertenrat, die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, die Bundesministerien für Justiz, Gesundheit, Arbeit und Soziales sowie Finanzen und, neben vielen anderen, nicht zuletzt der Verein der Careleaver vertreten.
Die AG tagte insgesamt fünfmal. Die vier auf die erste, lediglich konstituierende, Sitzung folgenden Tagungen hatten vier Themen zum Gegenstand, nach denen das BMFSFJ das Reformprojekt gegliedert hat:
- Besserer Kinderschutz und mehr Kooperation
(12. Februar 2019), - Unterbringung außerhalb der eigenen Familie: Kindesinteressen wahren - Eltern unterstützen - Familien stärken (4. April 2019),
- Prävention im Sozialraum stärken (11. Juni 2019),
- Mehr Inklusion/Wirksames Hilfesystem/Weniger Schnittstellen (17./18. September 2019).12
Die Befassung mit den beiden ersten Themen (Kinderschutz und Fremdunterbringung) war von breitem Konsens geprägt. Es herrscht jedenfalls überwiegend Einigkeit darüber, dass das Recht der Betriebserlaubnis für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe auszubauen sei und dass die Rechtslage von Pflegekindern so verbessert werden müsse, dass es nicht zu "Drehtürverläufen" kommt.
Auch das Projekt, Ombudsstellen für die Kinder- und Jugendhilfe flächendeckend auszubauen, fand viel Zustimmung. Es ist keine Überraschung, dass es einige Bundesländer sind, die diesen Bedarf noch nicht recht erkennen wollen. Auf die Differenzen in Detailfragen kann hier nicht eingegangen werden. Die Diskussionen sind aber anhand des online gestellten Materials13 gut nachvollziehbar.
Prävention, Finanzierung und die umstrittene inklusive Lösung
Eine erste Überraschung war die Sitzung vom 11. Juni, die sich mit dem dritten Thema (Prävention im Sozialraum stärken) befasste. Das vorbereitende Papier des Ministeriums ließ erhebliches Konfliktpotenzial erkennen.14 So war hier formuliert, die Finanzierung im jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnis stehe dem Ausbau einer präventiven Infrastruktur entgegen. Die Leistungserbringer könnten im jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnis die Inhalte der Leistungen nahezu unangefochten einseitig definieren. Eine Reform müsse Einschränkungen in die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit ermöglichen. All dies wird seit Jahren immer wieder prominent behauptet,15 wird aber dadurch nicht richtig. So schienen lebendige Kontroversen ins Haus zu stehen. Aber die blieben aus. Die Diskussionsbeteiligung war so zurückhaltend, dass die Sitzung anderthalb Stunden früher als geplant ihr Ende fand. Das Ministerium hielt sich bedeckt, und so blieb völlig offen, wohin die Reise gehen soll. Das vorbereitende Papier des BMFSFJ, nicht die Diskussion in der Sitzung, läßt erkennen, dass die Finanzierung im Dreiecksverhältnis auch künftig infrage gestellt werden kann.
Die Diskussion um die inklusive Lösung war in den ersten drei inhaltlichen Sitzungen der AG omnipräsent. Der Prozess hat gezeigt, wie groß die Probleme sind, die aus der Abgrenzung der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII beziehungsweise IX von der Kinder- und Jugendhilfe erwachsen. Zugleich wurde deutlich, wie umstritten das Thema ist. Vor allem auf der Länderbank hat die inklusive Lösung starke Gegner.
Und nun: "Mehr Inklusion!"
Die letzte AG-Sitzung am 17./18. September 2019 hielt die zweite Überraschung bereit. In der Diskussion wurde eine breite Unterstützung für die inklusive Lösung sichtbar. Besonders zu erwähnen ist das leidenschaftliche Plädoyer von Klaus-Peter Lohest, der für Rheinland-Pfalz teilnahm. Er erinnerte daran, dass die Probleme, die aus der geteilten Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe für junge Menschen erwachsen, seit 26 Jahren ohne Ergebnis diskutiert werden. Wenn die Politik auch dieses Mal an einer Lösung scheitere, trage sie dazu bei, dass das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie Schaden nehme. Bayern und Nordrhein-Westfalen, die die inklusive Lösung bislang abgelehnt hatten, äußerten sich sehr zurückhaltend und zeigten große Offenheit. Der Deutsche Landkreistag räumte unumwunden ein, dass die Kreise sich ganz überwiegend für die inklusive Lösung aussprechen, der Spitzenverband sich aber dagegen positioniert, und ließ die Hoffnung auf eine Korrektur seiner Position erkennen. Gegen alle Unkenrufe hat sich hier ein politisches Fenster geöffnet, das die Realisierung der inklusiven Lösung noch in dieser Legislaturperiode möglich erscheinen lässt.
So geht es weiter
Der Dialog- und Beteiligungsprozess wird mit einer Abschlussveranstaltung am 12. Dezember in Berlin enden. Bis dahin wird das BMFSFJ einen Abschlussbericht vorlegen. Dieser wird nicht mit der AG abgestimmt, sondern vom Ministerium erstellt. Der Bericht soll Grundlage des Gesetzgebungsverfahrens werden, das für das kommende Jahr vorgesehen ist. Der Gesetzentwurf wird spätestens in einem Jahr in das parlamentarische Verfahren gehen müssen. Mit einem Referentenentwurf ist daher vor Sommer 2020 zu rechnen.
Anmerkungen
1. Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe 2017. Download: www.destatis.de, Suchbegriff: "5225501177004".
2. Deutsches Jugendinstitut; TU Dortmund: Empirische Befunde zur Kinder- und Jugendhilfe. Analysen zum Leitthema des 16. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetages 2017: Download unter: www.akjstat.tu-dortmund.de, Publikationen, 2017.
3. Hinte, W.: Geschichte, Quellen und Prinzipien des Fachkonzepts Sozialraumorientierung. In: Budde, W.; Früchtel, F.; Hinte, W. (Hrsg.): Sozialraumorientierung - Wege zu einer veränderten Praxis. Wiesbaden, 2006, S. 15.
4. Die Diskussion ist aufgearbeitet und nachgezeichnet bei Hinrichs, K.: 20 Jahre Streit um die Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe. RdJB, 2018, S. 176-200.
5. Fendrich, S.; Pothmann, J.; Tabel, A.: Monitor Hilfen zur Erziehung 2018. Download: https://bit.ly/2kCBZnc
6. Achatz, J.; Hirseland, A.; Lietzmann, T.; Zabel, C.: Alleinerziehende Mütter im Bereich des SGB II - Eine Synopse empirischer Befunde aus der iab-Forschung. Download: http://doku.iab.de/forschungsbericht/2013/fb0813.pdf
7. Erstes Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 16.2.1993, BGBl. I S. 239.
8. Art. 9 BTHG, siehe auch § 134 SGB IX idF BTHG.
9. Der Prozess ist sehr gut dokumentiert unter:
http://kijup-sgbviii-reform.de
10. Einzelheiten unter: www.mitreden-mitgestalten.de
11. Der Deutsche Caritasverband ist mit einem Sitz, den der Autor dieses Beitrags innehat, vertreten.
12. Sitzungsprotokolle unter: www.mitreden-mitgestalten.de
13. Ebd.
14. Die vorbereitenden Papiere stehen online: Ebd.
15. Im Ergebnis Hinrichs, K.: 20 Jahre Streit um die Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe. RdJB, 2018, S. 176-200.
Bitte mit sozialem Ausgleich!
Caritaslöhne im Branchenvergleich
Klimaschutz in stationären Pflegeeinrichtungen
Wohnen ist Problemschwerpunkt
Reform der Kinder- und Jugendhilfe
Digitalisierung fordert das Vereinbaren von Gegensätzen
Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes
Plattformen ja, aber welche?
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}