Digitalisierung fordert das Vereinbaren von Gegensätzen
Die Megatrends in der Arbeitswelt und hier allen voran die Digitalisierung bestimmen das künftige Denken und Handeln in Organisationen. Wir bewegen uns in der sogenannten VUCA-Welt: Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität nehmen zu. Längst befinden wir uns nicht mehr in einem Change-, sondern in einem Transformationsprozess, für den sich kein bestimmter Anfang und kein Ende ausmachen lassen. Sein Ziel kann bestenfalls vage formuliert werden. Treiber dieser Entwicklungen ist nicht zuletzt die Digitalisierung, die sich in vier Dimensionen vollzieht:
- Innovationen in Technologie,
- Innovationen in Geschäftsmodellen,
- Innovationen in Prozessen und Strukturen,
- Innovationen in der Gesellschaft, in sozialen Kontexten, im System Arbeit ...
Immer mehr wird deutlich, dass sich Organisationen vor diesem Hintergrund bestimmten Spannungsfeldern gegenüber sehen. Diese im Sinne einer Ambidextrie2 aufzulösen oder zumindest zu entschärfen, stellt eine der größten Herausforderungen für die Zukunft dar. Diese Spannungsfelder bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen und umfassen sehr viele verschiedene Themenfelder. Sie lassen sich in die Bereiche Business 4.0, Führung 4.0, Beschäftigte 4.0 sowie Organisation 4.0 gliedern (vgl. Abb. 1).
Business 4.0
Es ist nicht davon auszugehen, dass digitale Geschäftsmodelle die traditionellen Modelle komplett verdrängen. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass traditionelle und digitale Geschäftsmodelle in Zukunft nebeneinander existieren (können). Darüber hinaus gibt es hybride Geschäftsmodelle, bei denen physische und digitale Leistungsbestandteile miteinander verbunden sind und der Leistungserstellungsprozess gleichermaßen physisch und digital aufgebaut ist. Ein Beispiel bietet hier die Beratungstätigkeit der Caritas: Weiterbestehende analoge Angebote mit Türschild und Face-to-face-Beratung werden ergänzt um ortsunabhängige Angebote der Online-Beratung.
Außerdem ist die Realität vieler Unternehmen durch Innovations- und Qualitätsdruck auf der einen Seite und Kostendruck auf der anderen Seite gekennzeichnet. Dies wird sich in Zukunft wohl nicht ändern, ganz im Gegenteil: Es ist davon auszugehen, dass sich dieses Spannungsfeld verschärfen wird. Auch hier kennt die Caritas viele Beispiele, bei denen sozial sehr wünschenswerte innovative Hilfsangebote (noch) nicht ausreichend gegenfinanziert sind, so dass es mühsam Kompromisse zu finden gilt.
Um dem Unternehmen die heute notwendige Flexibilität zu ermöglichen, braucht es flexible Mitarbeitende - die jedoch im Gegenzug Stabilität und sichere Arbeitsplätze einfordern. Für diese Vereinbarung von Gegensätzlichem wurde auf der europäischen Ebene 2012 der Begriff "Flexicurity" geprägt.3
Führung 4.0
Change und Transformation sind nicht das Gleiche. Mit dem Begriff Change wird eine Veränderung verbunden, die einen Anfang und ein Ende hat, während eine Transformation einen immerwährenden Prozess darstellt - der deshalb nicht weniger nach Gestaltung und Begleitung durch Führungskräfte verlangt. Für Führungskräfte reicht es daher nicht mehr aus, einen Führungsstil im Sinne der Management-Lehre (transaktional) zu praktizieren. Daneben braucht es eine Leadership-Philosophie (transformational) mit den entsprechenden Fähigkeiten und Einstellungen.
Und hinsichtlich der Führungsfrage "Kontrolle der Mitarbeitenden versus Vertrauen zu ihnen" stellt sich nicht (mehr) die Frage des Entweder-oder, sondern vielmehr die Frage des Sowohl-als-auch. Es müssen Mindeststandards eingehalten werden bei gleichzeitigem Handlungsspielraum, in dem delegiert wird und in dem eine Vertrauenskultur herrscht.
Beschäftigte 4.0
Veränderungen lösen bei vielen Menschen das Gefühl von Unsicherheit und Ungewissheit aus. Um damit umzugehen, bedarf es der Orientierung beziehungsweise Faktoren, auf die man zählen kann, die Verbindlichkeit und Konstanz vermitteln.
Die Beschäftigungseffekte im Zuge der Digitalisierung implizieren, dass es zu einer Polarisierung im Kontext der Personalbedarfe im Unternehmen kommt: zu Fachkra¨fte-Engpa¨ssen bei gleichzeitig grundsätzlichem Erfordernis des Personalabbaus.
Organisation 4.0
In zunehmendem Maß findet sich in Unternehmen eine Parallelorganisation. Sie sind gewissermaßen mit zwei "Betriebssystemen" ausgestattet: einem für das Tagesgeschäft (klassische Linienorganisation) und einem zweiten, um konstant nach neuen Lösungen und Ideen zu suchen ("agile Organisation").
Im Moment werden die Begrifflichkeiten "agil" und "flexibel" häufig synonym verwendet oder vermischt. In einigen Betrieben zeigt sich jedoch, dass beide Konzepte nicht übereinkommen, die Schnittstellen nicht funktionieren und die Logiken nicht oder nur bedingt harmonieren. Der vielschichtige Begriff der Agilität bezieht sich insbesondere auf Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde Bedingungen. Er geht mit einem hohen Maß an Selbstbestimmtheit einher - klassische Hierarchien werden durch vernetzte Arbeitsformen ersetzt. Agile Prozesse erfordern insofern in der Regel den persönlichen Austausch. Dies stellt Mitarbeitende in flexiblen Arbeitsmodellen nicht selten vor Herausforderungen und führt zu Zielkonflikten.
Was in der Debatte um stationäre versus mobile Arbeit wenig Beachtung findet, ist die Zusammenarbeit von Stationary Workers und Mobile Workers sowie die Führung von derart gemischten Teams. Nicht selten begegnen sich beide Gruppen im Alltag mit Vorurteilen und geraten in eine Stereotypen-Falle, wenn nicht von Anfang an für eine gemeinsame Kultur wertschätzender Zusammenarbeit gesorgt wird.
Zudem: In einer vernetzten Welt ist man theoretisch immer erreichbar. Die zentrale Frage lautet: Ist man deshalb auch direkt verfügbar? Es bedarf also weniger der Regelung der Erreichbarkeit, sondern vielmehr der Regelung der wirklichen Verfügbarkeit.
Zunehmend vergrößert sich die Vielfalt von privaten Lebenssituationen, mit denen die Beschäftigten umgehen müssen, und gleichzeitig nimmt das Spektrum von Berufssituationen und -phasen zu. Es ergibt sich die Herausforderung für Organisationen und ihre Mitarbeitenden, diese unterschiedlichen Lebens- und Berufsphasen in Einklang zu bringen.
Inkrementelle und radikale Innovationen zugleich
Führt man sich die Komplexität und Unterschiedlichkeit dieser Spannungsfelder vor Augen, so liegt auf der Hand, dass die in der Literatur vielfach beschriebene organisationale Ambidextrie zu kurz greift, um den mit ihnen verbundenen unterschiedlichen Positionen und Zielrichtungen gleichermaßen gerecht werden zu können. Denn die organisationale Ambidextrie wird insbesondere darauf bezogen, radikale und inkrementelle (kleinteilige Schritt-für-Schritt-)Innovationen gleichzeitig in der Organisation zu verfolgen. Inkrementelle Innovationen betreffen zum Beispiel die Optimierung eines bestimmten Portfolios (Re-Image). Darüber hinaus gehört zu inkrementellen Innovationen das Angebot von Lösungen in neuen Feldern (Re-Invent). Inkrementelle Innovationen werden auch als Exploitation beziehungsweise Ausbau des Bestehenden bezeichnet. Demgegenüber werden mit radikalen Innovationen Erfindungen in und für noch nicht existierende Märkte und das Erschließen von Neuland verbunden. Dies ist mit den Begriffen "Disrupt" und "Exploration" verknüpft.4 Es bedarf also zusätzlicher Dimensionen der Ambidextrie, um den Spannungsfeldern in den Bereichen Business 4.0, Führung 4,0, Beschäftigte 4.0 sowie Organisation 4.0 angemessen zu begegnen.
Anmerkungen
1. Dieser Beitrag fußt auf einem Auszug aus der Publikation "Die vierte Dimension der Digitalisierung: Spannungsfelder in der Arbeitswelt von morgen" der beiden Autorinnen, die in Kürze im Springer-Verlag erscheinen wird.
2. Ambidextrie (lat. "beide rechts", also "Beidhändigkeit") meint die Fähigkeit einer Organisation, zwei konträre Ziele übereinzubringen.
3. Europäische Kommission, 2012: Flexicurity. In: https://bit.ly/2tWs5wd
4. Hofmann, J.: Organisation 4.0: Veränderungsfähigkeit als Schlüsselfaktor. Vortrag im Rahmen der Veranstaltung "Erfolgreiche Unternehmensführung in Zeiten zunehmend schneller Veränderung", Berlin, 30. November 2017.
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