Regelsätze, die die Existenz wirklich sichern
Ein würdiger Umgang, was ist das? Und was hat dies mit Hartz IV zu tun? - Seit der Einführung des Sozialgesetzbuches II (SGB II) – zum 1. Januar 2005 beschäftigt sich die Caritas bundesweit mit der praktischen Umsetzung dieses Gesetzes und den Folgen für die entsprechenden Leistungsempfänger(innen). Die Mängel des SGB II treten in den Beratungsgesprächen in den Diensten und Einrichtungen der Caritas offen zutage und so fällt die Bilanz der Praktiker vernichtend aus. Das grundlegende Ziel, den Rechtsanspruch auf Unterstützung im Falle einer Bedürftigkeit umzusetzen und das Existenzminimum zu gewährleisten, wird verfehlt.
Mit Beginn der praktischen Umsetzung des SGB II waren alle Akteure, Mitarbeitende aus der Praxis wie auch Leistungsempfänger(innen), erst einmal damit beschäftigt, die Gesetze, neuen Strukturen und Organisationsformen zu begreifen sowie die Antragsformulare und Bescheide zu verstehen.
Sehr schnell wurde deutlich, dass im Gesetz viele Unklarheiten vorhanden sind, die Interpretationsspielräume zum Beispiel bei der Mitwirkungspflicht, der Zugehörigkeit zur Bedarfsgemeinschaft oder bei den Kosten der Unterkunft zulassen. Manche interpretierbare Regelung wirkt willkürlich und musste damit zwangsläufig Klagen und Gesetzesänderungen nach sich ziehen. So sind bis heute über 40 Gesetzesänderungen1 zum SGB II vorgenommen worden, und die nächsten großen Änderungen stehen an: Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe erarbeitet zurzeit Vorschläge "zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts - einschließlich des Verfahrensrechts - im SGB II", die die Themen "Einkommen und Vermögen", "Verfahrensrecht" und "Kosten der Unterkunft sowie "Bedarfsgemeinschaften" betreffen.2
Viele dieser bisherigen Änderungen bedurften neben der fachpolitischen Vorarbeit der Caritas und anderer Verbände der freien Wohlfahrtspflege auch der gerichtlichen Auseinandersetzung. So verzeichnen die Sozialgerichte einen hohen Anteil von Klagen in Angelegenheiten des SGB II, die zu über 40 Prozent zugunsten der Kläger(innen), also der Leistungsempfänger(innen), entschieden wurden.3
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Berechnung der Regelsätze vom 9. Februar 2010 ist sicherlich das bedeutendste Urteil. Es weist eindeutig darauf hin und gibt vor, dass "das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins, das über die Sicherung der physischen Existenz hinausgeht und sich auf ein soziokulturelles Existenzminimum bezieht" gewahrt bleiben muss, "denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen"4.
Bescheide sind oft unverständlich
Nach fast zehn Jahren ist es noch immer nicht gelungen, ein Antragsverfahren einzuführen und Bescheide zu verschicken, die verständlich sind. Die Erreichbarkeit von Mitarbeiter(inne)n der Jobcenter ist nach wie vor nicht sichergestellt, auch die Bearbeitungszeiten sind zu lang. Es fehlt ausreichendes und gut qualifiziertes Personal. Problematisch ist, dass die Regelsätze nicht den tatsächlichen Ausgaben entsprechen. So gibt es eine nachgewiesene Unterdeckung von über neun Euro pro Monat bei den Stromkosten für Einzelpersonen. Die Sanktionspraxis bei angeblichen Meldeverstößen oder vermeintlich nicht eingereichten Unterlagen bedarf einer Veränderung; auch das Abschmelzen des Lebensunterhaltes durch Darlehenszahlungen für Kaution, Stromrechnungen und Anschaffungen muss als Problem erkannt und eine Lösung dafür gefunden werden.
Besonders schmerzhaft für Leistungsberechtigte ist ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit: Oft wird ihnen ihr gesetzlicher Anspruch abgesprochen, sie werden als Schmarotzer und als lebensunfähig und verantwortungslos verunglimpft. Immer wieder ist von Sozialbetrug die Rede und von der Unfähigkeit, die eigenen Kinder mit dem anvertrauten Geld zu versorgen - das Geld müsse direkt beim Kind ankommen. Keine Rede mehr ist dann von der in § 1 Absatz 1 SGB II erwähnten Grundsicherung, die "es Leistungsberechtigten ermöglichen (soll), ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht".
Ein Blick auf das, was sein sollte
Ziel des Gesetzes ist es, die Hilfebedürftigkeit zu beenden und den Lebensunterhalt der Menschen zu sichern. Wenn sich dies in der Praxis so niederschlagen würde und sich Politik und Verwaltung tatsächlich darum bemühten, existierten einige Probleme schlicht nicht. Es gäbe nur wenige Stromsperren, kaum Sanktionen und keine Verunglimpfungen der Leistungsempfänger(innen). Es gäbe keinen Abzug beim Regelsatz für Alkohol oder Tabak oder ein auf Anträge und Misstrauen aufbauendes Bildungs- und Teilhabepaket, das diesen Namen kaum verdient, denn Teilhabe für Kinder und Jugendliche kostet unbestreitbar mehr als zehn Euro im Monat.
Und wenn der Regelsatz sowohl existenzsichernd als auch menschenwürdig gestaltet wäre, gäbe es keine Armutsversorgung und keine sich etablierende Armuts-Parallelgesellschaft wie Tafeln, Kulturlogen und Unterstützungen durch Stiftungen und Fonds. Es sind gut gemeinte und oft von Herzen kommende Angebote. Aber sie machen die Menschen abhängig von der Gabe anderer und schmälern ihre Möglichkeiten, ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden.
Hier folgt ein Blick auf das, was die Praktiker(innen) für notwendig halten und was die Caritas zu tun hat:
In den vergangenen zehn Jahren sind Sozialarbeiter(innen) in unterschiedlichen Beratungsstellen mit unendlich vielen Einzelschicksalen und -problemen konfrontiert worden. Sie haben für das Sozialmonitoring, das zwischen den Trägern der freien Wohlfahrtspflege und der letzten Bundesregierung vereinbart war, Probleme und Fälle gesammelt und aufbereitet, unzählige Versuche unternommen, um mit den ansässigen Jobcentern ins Gespräch zu kommen und Lösungen zu finden, die einen würdigen Umgang mit Menschen im Leistungsbezug möglich machen.
Das Sozialmonitoring ist unter veränderten Bedingungen weiterzuführen, insbesondere indem die Öffentlichkeit über Ergebnisse informiert und die Betroffenen einbezogen werden. Die Caritas sollte sich in ihrer politischen Arbeit auf bestimmte Problemlagen fokussieren und diese so lange öffentlich skandalisieren, bis sie verändert werden.
Die Praxis hält es für notwendig, eindeutiger und grundsätzlicher die Problematik der handwerklichen Fehler des SGB II öffentlich zu machen. Sie fordert, dass die betroffenen Menschen am Sozialmonitoringprozess beteiligt werden und damit ihre Perspektive in den politischen Prozess einbringen können. Außerdem braucht es eine Diskussion über eine grundsätzlich neue gesetzliche Regelung. Die bisherige Strategie der kleinen Schritte und des Lobens von Nachbesserungen im Gesetz muss abgelöst werden von einer Ursachen aufzeigenden Strategie. Die Caritas darf sich nicht darauf beschränken, Einzelfälle zu bearbeiten und für diese mit den Jobcentern vor Ort Einzellösungen zu finden. Die Caritas ist gehalten, sich stärker und gezielter für die betroffenen Menschen einzusetzen und ihrer Option für die Armen auch politisch nachhaltig nachzukommen, damit all die seit Jahren ungelösten Probleme wie die oben beschriebenen endlich angegangen werden.
Ein würdiger Umgang mit den Leistungsberechtigten kann daran gemessen werden, ob die Anträge und Bescheide verständlich, die Mitarbeiter(innen) der Jobcenter erreichbar sind und indem die Anzahl der Klagen und ausgesprochenen Sanktionen zurückgehen.
Ein letzter Punkt: Die Caritas ist verpflichtet, Forderungen und Vorschläge zu erheben, die Ausgrenzungen vermeiden und armutssensibel ausgerichtet sind. Die Debatte um die Ausnahme Langzeitarbeitsloser vom Mindestlohn aufgrund ihrer angeblichen Leistungsdefizite ist dies sicherlich nicht. Auch hier ist mehr Einsatz für einen würdigeren Umgang notwendig und gewünscht.
Anmerkungen
1. Änderungen an Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitssuchende
(www.buzer.de/gesetz/2602/l.htm)
2. www.harald-thome.de/media/files/ASMK-Rechtsvereinfachungen-SGB-II---27.09.2013.pdf
3. Destatis. Statistisches Bundesamt: Gerichtsverfahren - Klageverfahren bei den Sozialgerichten und Bundestags-Drucksache 17/9335.
4. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, Rn 135, zitiert nach Becker, Irene; Schüssler, Reinhard: Das Grundsicherungsniveau. In: Arbeitspapier 298 der Hans-Böckler-Stiftung, S. 5.
Caritastarif unter Druck
Dokumentieren mit Maß
Das SGB II wird vereinfacht
Was ist das kirchliche Profil der Caritas?
Geschützt und anonym gebären
Caritas muss sich auf die Welt einlassen dürfen
Einseitige Kita-Arbeit
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}