Dokumentieren mit Maß
Der Umfang und zeitliche Aufwand für die Pflegedokumentation werden seit Jahren stetig und wiederkehrend in den Pflege- und Gesundheitseinrichtungen von allen Akteuren thematisiert. Nicht zuletzt deshalb gab es dazu in den vergangenen zwanzig Jahren viele Untersuchungen, Forschungen, Projekte und Expertisen mit unterschiedlichen Zielen und Ergebnissen. Einige sprechen seither von rechtlicher Absicherung oder von Qualität und kommen zum Kernergebnis: "Bürokratie entsteht in den Einrichtungen und muss dort behoben werden."1 Andere sehen gerade in den von außen geleiteten Anforderungen wie Rechtsvorschriften, Prüfinstanzen und überdimensionierten Pflegedokumentationssystemen die Verursacher einer Pflegedokumentationsbürokratie.
Unabhängig davon, mit welchem Instrument (händisch oder IT-gestützt) der Pflegeprozess erfasst wird, ist die Dokumentation ein Begleitprozess, der an formale Aspekte gekoppelt ist. Form und Inhalt der Dokumentation sind ausschließlich abhängig von der einrichtungsspezifischen Definition des Pflegeprozesses. Nichtsdestotrotz wird der Dokumentationsaufwand in der Arbeitsverdichtung der Pflege als ein belastender Einflussfaktor gesehen. Lückenlose Nachweisbarkeit der Pflege und Kontrollen durch Prüfinstanzen (unter anderem durch Heimaufsichten und Medizinische Dienste) werden zudem als weitere Belastung empfunden.
In den Maßstäben und Grundsätzen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität (MuG) wurde festgelegt, dass die Pflegedokumentation bestimmte Anforderungen erfüllen sollte. Die Einrichtungen sollen eine "… praxistaugliche, den Pflegeprozess unterstützende und die Pflegequalität fördernde Pflegedokumentation … die über ein für die Einrichtungen vertretbares und wirtschaftliches Maß nicht hinausgehen dürfen …"2, sicherstellen. Ein entsprechendes Verfahren, das eine "Grundstruktur"3 einer fachwissenschaftlich begründeten Pflegedokumentation zuverlässig und einheitlich festlegt, fehlt jedoch bislang.
Das Statistische Bundesamt beziffert 2013 den jährlichen finanziellen Aufwand für die Pflegedokumentation auf 2,7 Milliarden Euro.4 Allein zwei Drittel der Kosten entfallen auf sogenannte Leistungsnachweise, beispielsweise das tägliche Aufzeichnen von Pflegeleistungen in Formularen zur Abrechnung und zur Qualitätssicherung. Der Zeitaufwand, den eine Pflegefachkraft zur Dokumentation benötigt, wird mit rund 7,7 Minuten pro Arbeitsstunde aufgezeigt. Erstmals wird im Rahmen der Erhebung des Statistischen Bundesamtes für eine Standardpflegedokumentation eine zeitliche Dimension mit etwa einer Stunde pro Schicht und Pflegefachperson aufgezeigt. Erhöhter Aufwand zur Dokumentation bedeutet in der Konsequenz eine Verknappung der Arbeitszeit für eine qualitätsgeleitete fachliche Pflege.
Das Projekt: von der Praxis für die Praxis
Zur Entbürokratisierung der Pflege hat die Ombudsfrau im Bundesministerium für Gesundheit, Elisabeth Beikirch, insgesamt sechs Handlungsfelder identifiziert. Die Pflegedokumentation als eines dieser Handlungsfelder stand unter folgenden weiteren Aspekten auf dem Prüfstand:5
- Qualitätsprüfung (SGB XI) in Verbindung mit den Transparenzkriterien und der Notengebung;
- landesspezifische Anforderungen (Heimrecht, Medizinischer Dienst der Krankenversicherung);
- die Pflegedokumentation als Nachweisinstrument bei rechtlichen Auseinandersetzungen;
- zeitliche und finanzielle Auswirkungen auf den Pflegealltag;
- pflegefachliche Aspekte, unter anderem Pflegeprozessmodell und Expertenstandards des Deutschen Netzwerks für Quaitätsentwicklung in der Pflege (DNQP).
Unter Einbezug von Expert(inn)en legte die Ombudsfrau dann im Juli 2013 Empfehlungen vor, die die Effizienz der Pflegedokumentation steigern sollten. Diese Empfehlungen wurden im Projekt des Bundesgesundheitsministeriums "Praktische Anwendung des Strukturmodells - Effizienzsteigerung der Pflegedokumentation" in der Praxis getestet. In fünf Länderregionen des Bundesgebiets haben 26 stationäre Pflegeeinrichtungen und 31 ambulante Pflegedienste von September 2013 bis Januar 2014 das Vorgehen für eine einfachere Pflegedokumentation im Alltag erprobt. Begleitet wurden die Einrichtungen von regionalen Projektverantwortlichen der Verbände. Nur in einer Region (Nordrhein-Westfalen) waren sowohl ambulante als auch stationäre Einrichtungen beteiligt - davon fünf Caritaspflegestationen aus dem Erzbistum Köln und zwei katholische Dienste aus der Diözese Münster.
Im Wesentlichen ging es im Projekt darum, die Pflegedokumentation auf das fachliche und erforderliche Maß zu begrenzen, ohne wichtige Informationen zur internen Kommunikation, zur Qualitätssicherung und gegenüber den Verbraucher(inne)n einzuschränken. Fachliche und juristische Aussagen zur Pflegedokumentation sollten ebenfalls hinterfragt sowie die Kompetenz von Pflegenden in den Fokus gerückt werden. Für den Zeitraum des Praxistests wurde den beteiligten Projekteinrichtungen zugesichert, dass es keine Regelprüfungen durch heimaufsichtliche Instanzen und durch die Medizinischen Dienste geben werde. Am 19. Februar wurden die Ergebnisse des Praxistests der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Abschlussbericht ist seit dem 15. April veröffentlicht.6
Die Grundstruktur der im Projekt erprobten Pflegedokumentation basiert auf einem Pflegeprozess mit vier Elementen und auf der neu entwickelten "strukturierten Informationssammlung"7.. In dieser wird die Selbstbestimmung der pflegebedürftigen Person vor das pflegerische Handeln gesetzt. Grundlage bilden die fünf wissenschaftsbasierten Themen Kognition und Kommunikation, Mobilität und Bewegung, krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen, Selbstversorgung und Leben in sozialen Beziehungen (ambulant dazu Haushaltsführung) des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und ein rationales Verfahren zur Risikoeinschätzung.
Dokumentation muss auch haftungsrechtlich genügen
Die Vereinfachung der Pflegedokumentation haben Rechts- und Pflegewissenschaftler(innen) sowie Expert(inn)en aus der Praxis fachlich diskutiert. Jurist(inn)en haben dann aus haftungsrechtlicher Sicht Anfang 2014 Stellung zum notwendigen Umfang der Pflegedokumentation genommen (Kasseler Erklärung):
- "Die Dokumentationspflicht erstreckt sich nur auf die wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen sowie auf die wesentlichen Verlaufsdaten. Nicht dokumentiert werden müssen insbesondere Routinemaßnahmen und standardisierte Zwischenschritte. Im stationären Bereich kann daher - unter den oben angeführten Voraussetzungen - grundsätzlich auf Einzelleistungsnachweise hinsichtlich der grundpflegerischen Leistungen verzichtet werden.
- Für den ambulanten Bereich kann dieses Vorgehen bezogen auf die Einzelleistungsnachweise nicht gelten, da diese gleichzeitig als ,Abrechnungsbelege‘ dienen. Gleichwohl gilt dort, wie natürlich auch im stationären Bereich, dass aus haftungsrechtlicher Sicht eine knappe und aussagekräftige Pflegedokumentation ausreichend ist und Aufzeichnungen im Pflegebericht sich auf die Abweichung von der grundpflegerischen Routineversorgung beschränken und/oder selbstverständlich auf eventuelle akute Ereignisse."8
In der Anwendung des Strukturmodells, so zeigen die begleitenden Auswertungen zum Praxistest, werden sowohl die fachlichen als auch die juristischen Aspekte hinreichend berücksichtigt.
Zielführende Initiativen zum Bürokratieabbau sind zu begrüßen. So waren erstmalig maßgebliche Akteure auf Bundes- und Landesebene über ein Lenkungsgremium in das Entbürokratisierungsprojekt einbezogen. Viele Expertendiskussionen machen deutlich: Für die Entbürokratisierung der Pflegedokumentation ist es unerlässlich, organisatorische Strukturen (unter anderem Verantwortung) und Abläufe (Leistungsbeschreibungen) im internen Qualitätsmanagement sicherzustellen.
Neukunden erfassen: statt in drei Stunden nur in einer
Das Praxisprojekt zeigt Effekte in den beteiligten Einrichtungen. So geben Projektbeteiligte an, dass der Zeitaufwand mit der neuen Dokumentation deutlich reduziert wurde.9 Beispielsweise brauchen die Mitarbeiter(innen) in der ambulanten Pflege für die Dokumentationserstellung eines Neukunden nur noch eine Arbeitsstunde statt bisher drei Stunden.
Um die strukturierte Informationssammlung einzuführen, ist in der Implementierungsphase ein Coaching sinnvoll.
Das getestete Verfahren bedarf natürlich eines Umdenkens bei allen Akteuren einschließlich der Prüfinstanzen und zudem Veränderungsprozessen in den Einrichtungen. Trotzdem stand schon vor Projektende für alle Einrichtungen fest, ihre Pflegedokumentation in der Form weiterzuführen. Zwischenzeitlich stimmte das Lenkungsgremium dem Abschlussbericht des Projektes zu und vereinbarte, dass die Fortführung in den bisherigen Projekteinrichtungen einvernehmlich unterstützt wird. Um die Anschlussfähigkeit zu sichern und die flächendeckende Implementierung zu fördern, beabsichtigen die Vertragspartner zudem, nach § 113 SGB XI unverzüglich die Kompatibilität mit den Maßstäben und Grundsätzen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität zu vereinbaren. Eine breit angelegte Implementierungsstrategie für die Dauer von zwei Jahren, welche sukzessive eine flächendeckende Umsetzung ermöglicht, wird parallel vorbereitet.
Nun fragt man sich, welches Ziel oder welche Innovation dieses Projekt gegenüber den bisherigen Entbürokratisierungsprojekten der letzten 20 Jahre aufzeigt: Die tatsächliche Innovation dieses Entbürokratisierungskonzeptes ist sicher die Besinnung auf Ursprüngliches - nämlich auf Vertrauen in die Fachlichkeit der Pflege!
Anmerkungen
1. BMFSFJ: Pflegedokumentation stationär. Das Handbuch für die Pflegeleitung. Bonn, 2007, S. 2.
2. § 113 SGB XI.
3. BMG: Projektskizze "Praktische Anwendung des Strukturmodells - Effizienzsteigerung der Pflegedokumentation". Berlin, 2013.
4. Abschlussbericht des Statistischen Bundesamtes zum Erfüllungsaufwand in der Pflege. Berlin, 2013.
5. www.bmg.bund.de/pflege/entbuerokratisierung-in-der-pflege/kontakt-zu-elisabeth-beikirch/zentrale-themenfelder-der-entbuerokratisierung.html; Zugriff 27.3.2014.
6. Abschlussbericht: Bundesministerium für Gesundheit in Zusammenarbeit mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und dem Bundesverband Privater Anbieter sozialer Dienste (Hrsg.): Praktische Anwendung des Strukturmodells - Effizienzsteigerung der Pflegedokumentation in der ambulanten und stationären Langzeitpflege. Berlin, 2014.
7. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS): Die Bedeutung des Pflegeplanes
für die Qualitätssicherung der Pflege. Forschungsbericht Nr. 261, Bonn, 1996.
8. www.heimaufsicht-muenchen.de sowie www.wiso.hs-osnabrueck.de/35012.html; Zugriff 27.3.2014.
9. Siehe Abschlussbericht, a.a.O.
Caritastarif unter Druck
Das SGB II wird vereinfacht
Was ist das kirchliche Profil der Caritas?
Geschützt und anonym gebären
Caritas muss sich auf die Welt einlassen dürfen
Einseitige Kita-Arbeit
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