Am Ende hat sie sich für das Leben entschieden
"Am liebsten würde ich mich ritzen oder töten, du fragst dich bestimmt, warum tut sie’s nicht endlich. Keine Ahnung. Aber ich werd’s bald tun." Diese Worte schreibt Anna (15) im mit dem Deutschen Sozialpreis ausgezeichneten Dokumentarfilm "Hallo Jule, ich lebe noch" an ihre Beraterin Jule (20). Beide kennen sich nicht persönlich, denn sie kommunizieren über die Mailberatungsplattform "U25", einem Beratungsangebot des Deutschen Caritasverbandes und des Arbeitskreises Leben Freiburg (AKL Freiburg) für suizidgefährdete Jugendliche.1
Bereits im Jahr 2002 hatte der AKL Freiburg seine bestehende Beratungsstelle zur Suizidprävention um die Online-Beratung "U25" erweitert, um auch junge Menschen zu erreichen. Dieses Beispiel aus Freiburg macht nun Schule: Ende 2012 wurden unter Beteiligung des Deutschen Caritasverbandes, des AKL Freiburg und anderer Träger vier "U25"-Ableger in den Städten Berlin, Dresden, Gelsenkirchen und Hamburg gegründet.
Nachrichten wie die der eingangs erwähnten Anna erreichen "U25" tagtäglich aus ganz Deutschland. Ein "paul1994" schreibt dann beispielsweise davon, dass er schon zwei Suizidversuche hinter sich hat und nun wieder daran denkt, sich etwas anzutun. Eine "little_melli" spricht von ihrer Depression und der Angst, wieder in eine psychiatrische Klinik eingewiesen zu werden, und ein Jugendlicher mit dem Pseudonym "boro458" schickt nur den einen Satz: "Übermorgen werde ich schon tot sein."2 Aber auch vermeintlich harmlose Themen wie eine verhauene Klassenarbeit oder der Abbruch einer Freundschaft sind häufig Gegenstand von Erst-Mails an "U25" und bedürfen behutsamer Nachfragen, weil nicht jede(r) Ratsuchende gleich in der ersten Mail den Mut aufbringt, offen über seine/ihre Suizidgedanken zu sprechen.
Die ehrenamtlichen Berater(innen) von "U25" gehören derselben Altersgruppe an wie ihre Klient(inn)en. Ihnen sind all diese Themen nicht fremd, auch weil sie sich während der sechs Monate ihrer Ausbildung intensiv mit ihren eigenen Krisenerfahrungen auseinandersetzen mussten. Dies erleichtert den Aufbau des Kontaktes und einer vertrauensvollen Beziehung, denn Klient(in) und Berater(in) kommunizieren hier auf Augenhöhe. In einem klassischen Setting mit einem oder einer meist um Jahre älteren professionellen Berater(in) fehlt dieses Teilen einer ähnlichen Lebenswelt. Somit fühlen sich die jungen Ratsuchenden bei einer Beratung durch Gleichaltrige meist besser verstanden und aufgehoben.
Gleichaltrige Berater verstehen die Klienten besser
Diese Vermutung legte auch eine Beobachtung der Mitarbeitenden des Arbeitskreises Leben Freiburg aus dem Jahr 2002 nahe: Deren "Face-to-Face"-Beratungsstelle mit dem Schwerpunkt Suizidgefahr/ Lebenskrisen wurde von Jugendlichen unter 25 Jahren wenig bis gar nicht frequentiert. Dass diese Altersgruppe aber von Suizidgefahr und Krisensituationen erheblich betroffen ist, zeigt ein Blick in die Statistik: In Deutschland sterben pro Tag zwei junge Menschen durch Selbsttötung; die Zahl der Suizidversuche in dieser Altersstufe, so schätzen Expert(inn)en, ist 20-mal höher.
Die Suizidpräventionsexpert(inn)en vom AKL entwickelten daraufhin das Onlineberatungskonzept "U25". Während in den ersten Jahren durch einen überschaubaren Bekanntheitsgrad nur etwa zwei bis vier Mailanfragen pro Woche eingingen, steigerte sich diese Zahl rapide mit der Ausstrahlung des oben erwähnten Dokumentarfilms "Hallo Jule, ich lebe noch" im Jahr 2009 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Mittlerweile verzeichnet das Projekt einen täglichen Eingang von fünf bis sechs Erstanfragen. Darin sind die Kontakte von bereits in der Beratung befindlichen Klient(inn)en noch nicht einmal inbegriffen. Dieses hohe Aufkommen an Anfragen - im Jahr 2012 waren es 1938 - konnten die 42 ehrenamtlichen Berater(inne)n von "U25" Freiburg schließlich nicht mehr auffangen: Mehr als 80 Prozent (1654) dieser erstmaligen Kontakte mussten mit Hilfe eines standardisierten Schreibens abgewiesen werden.3 Mit zunächst vier weiteren "U25"-Standorten wollen Caritas und Arbeitskreis Leben Freiburg hier Abhilfe schaffen. In Berlin, Dresden, Gelsenkirchen und Hamburg haben nun auch junge Menschen aus anderen Teilen Deutschlands die Chance, sich im Rahmen von "U25" für suizidgefährdete Gleichaltrige zu engagieren. Je eine hauptamtliche Mitarbeiterin pro Standort bildet - analog zu "U25" Freiburg - junge Menschen zu ehrenamtlichen Onlineberater(inne)n aus und begleitet diese bei der Beratung der suizidgefährdeten Klient(inn)en. Die ersten Berater(innen) haben die Ausbildung inzwischen abgeschlossen und sind in die Mailberatung eingestiegen. Mit nunmehr über 90 jungen Ansprechpartner(inne)n hofft man, nun wenigstens einen größeren Anteil der vielen Anfragen beantworten zu können.
Im Falle von Anna und Jule aus dem eingangs erwähnten Dokumentarfilm gab es ein Happy End: Anna, mittlerweile 21 Jahre alt, hat ihre suizidale Krise überstanden und ein Studium aufgenommen. Nach ihrer Aussage hatte der ungeschönte, ehrliche Beratungskontakt mit Jule einen großen Anteil daran, dass sie sich am Ende doch für das Leben entscheiden konnte.
Anmerkungen
1. Im Internet: www.u25-deutschland.de
2. Alle genannten Fallbeispiele sind anonymisiert und paraphrasiert.
3. Siehe Jahresbericht 2012 des Arbeitskreises Leben Freiburg, www.akl-freiburg.de/informationen/downloads
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