Ein wunderschönes Land kämpft sich aus dem Postsozialismus
Das große Erdbeben im Jahr 1988 brachte Armenien in das Licht der westlichen Öffentlichkeit mit rund 25.000 Toten und über 100.000 Obdachlosen. Armenien stand damals noch unter sowjetischer Herrschaft, so dass erst 1995 eine Caritas in dem geschundenen, aber mit seinen Bergen und Seen wunderschönen Land gegründet werden konnte. Zuerst nur auf die Nothilfe mit Auslandsmitteln ausgerichtet, zeigt sich heute eine selbstbewusste Caritas, die sich immer mehr in die Politik einmischt. Derzeit kämpft sie für eine inklusive Bildung nach der Behindertenrechtskonvention, nicht ganz unähnlich der Diskussion, die auch hierzulande stattfindet. Doch in Armenien ist nur ein Prozent der Bevölkerung katholisch, und so muss sich die Caritas bei politischen Aktionen an Unicef oder das Rote Kreuz anhängen, um Wirkung zu erzielen.
Alle Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Land stehen vor demselben Problem: der Politik, vielmehr der Nicht-Politik, wenn man Politik als die vom Volke ausgehende Gewalt definiert. In den postsowjetischen Ländern - hier befinden sich Armenien, die Ukraine und einige andere Staaten in derselben Lage - haben sich Funktionäre aus der sowjetischen Besatzungszeit nach der Wende Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrtausends die Wirtschaft, die Gebäude und die Infrastruktur unter den Nagel gerissen. In Armenien bekamen diejenigen, die in einer Wohnung (Staatseigentum) waren oder die Geschäftsführer eines Hotels (Staatseigentum) oder Stahlkombinats (Staatseigentum) waren, genau diese Sachwerte persönlich überschrieben. Oft wurde die Übertragung mit einem Pro-forma-Preis kaschiert. Das mag gut für den Wohnungsmarkt gewesen sein, aber sämtliche wirtschaftlichen Ressourcen wurden über Nacht an frühere Sowjetfunktionäre übertragen, deren Hauptziel die Selbstbereicherung war und ist. Diese Oligarchenclique mit ihren Seilschaften marodiert nach zwanzig Jahren immer noch in Armenien, jagt mit ihren Porsches und Geländewagen über die löchrigen Straßen, schickt ihre Kinder nach Oxford und Stanford und kümmert sich einen Kehricht um das Land und dessen Infrastruktur. Nur ein Beispiel soll hier kolportiert werden: Der frühere Bürgermeister der zweitgrößten Stadt Gyumri hatte in seinem letzten Haushalt eine Million Euro für die Reparatur der löchrigen Straßen eingestellt. Die Straßen sind nach seiner Amtsperiode noch immer ungeflickt. Dafür steht nun in der Stadtmitte ein neues Nobelhotel, das in dieser ärmlichen Region im Nordwesten des Landes nicht gebraucht wird. Sein Sohn hat die Million statt in die Straßen einfach in dieses Hotel gesteckt. Armenier würden hier nie Kunden einmieten, aber Touristen wüssten nicht sofort, welche Ungerechtigkeit hinter dem schönen Schlafplatz steckt. Inzwischen verkaufen die Oligarchen ihre unrechtmäßig erworbenen Besitztümer an internationale Investoren. Sie spüren, dass das Volk ihren Wohlstand nicht mehr erträgt. Dies ist wohl die letzte Phase ihrer "Wertschöpfung". Dann sind sie weg. Was aus dem touristisch attraktiven Land und seiner extrem gastfreundlichen Bevölkerung wird, ist ungewiss.
Die armenische Caritas ist zuversichtlich, dass sich demnächst etwas tut: "Hoffentlich ohne Gewalt, nicht wie bei den Demonstrationen nach der Präsidentenwahl 2008 mit zehn Toten und über 120 Verletzten, die gegen die Wahlfälschung protestiert hatten", ist von dort zu erfahren.
Doch auch die Präsidentschaftswahl im Februar 2013 dürfte wieder verfälscht worden sein, vermuten die Caritasmitarbeiter. Wahlbeobachter hatten die Ergebnisse aus den einzelnen Wahllokalen notiert, bevor sie an die offiziellen Stellen weitergeleitet wurden. Danach wäre der Herausforderer Raffi Hovannisyan (Foto) wohl der neue Präsident Armeniens. Als Sieger wurde jedoch offiziell der bisherige Amtsinhaber Serzh Sargsyan verkündet. Hovannisyan hatte sich danach mit Anhängern in der Haupststadt Eriwan auf dem Platz der Unabahängigkeit niedergelassen und war in den Hungerstreik getreten. In seinem westlichen Armenisch, das der in den USA als Abkömling von Genozidflüchtlingen geborene Armenier zu Hause spricht, rief er auch die weltweite armenische Diaspora zum unblutigen Kampf in Armenien auf. Sein - erfolgloses - Ziel war die Wiederholung der Wahlen.
Präsident Sargsyan weiß das mächtige Russland und Wladimir Putin hinter sich. Russland ist immer noch Schutzmacht Armeniens, das mit seinem Grenznachbarn Türkei wegen des Genozids 1915 und der Landnahme Westarmeniens sowie mit dem Nachbarn Aserbeidschan wegen des Streits um die Region Berg Karabach im offenen Konflikt steht.