„Gewalt ist ein langjähriger Begleiter“
Sucht und Gewalt gehen bekanntlich oft Hand in Hand. Warum weisen Sie im Kontext der Suchthilfe so ausdrücklich darauf hin?
Obwohl es jedermann klar sein müsste, dass ein erheblicher Anteil aller Suchtmittelpatienten Gewalttaten im familiären Umfeld oder gegenüber Fremden begeht, sind Suchtmittelmissbrauch und Gewalttätigkeit ein Tabuthema in der Behandlung von Suchtmittelabhängigen. Die Anamneseerhebung ist oftmals ungenügend: Zwar werden routinemäßig alle einschlägigen Verurteilungen der Patienten dokumentiert. Die Patienten werden aber nur selten systematisch nach ihrer Gewalttätigkeit gegenüber Angehörigen oder anderen Personen gefragt.
Ist der Zusammenhang von Drogen und Gewalt untersucht?
Viele Studien dokumentieren einen Zusammenhang von aggressivem Verhalten und dem Konsum psychoaktiver Substanzen. Die Gründe dafür sind jedoch bisher nicht geklärt. Die Mehrzahl der aggressiven Handlungen findet innerhalb der Submilieus der Drogenszene in einer engen Täter-Opfer-Beziehung statt, beispielsweise bei der Drogen- und Geldbeschaffung. Auch gehören wechselseitige Nötigungen und Gewaltandrohungen zum Alltag der Drogenszene. Die Anzeigebereitschaft ist äußerst gering, so dass es kaum verlässliche Zahlen über den Umfang gibt. Zu 90 Prozent sind verurteilte Gewalttäter übrigens männlich, allerdings steigt die Anzahl der Frauen.
Was ist Ihrer Meinung nach der Grund, warum die Suchthilfe den Gewaltaspekt tabuisiert?
Selbst wenn einem Therapeuten Gewalttaten seiner Patienten bekanntwerden, werden diese oftmals nicht zum expliziten Gegenstand weiterer therapeutischer Schritte. Viele Therapeuten lassen sich von der Behauptung der Patienten überzeugen, dass ihre Neigung zu Gewalttätigkeit und Aggression nur unter Substanzmissbrauch aufgetreten sei und sich das Thema mit Beginn der Abstinenzbehandlung von selbst erledigt habe. Auch verhalten sich viele Betroffene während der Suchtbehandlung gegenüber ihren Therapeuten angepasst, so dass diese das unverändert bestehende Gewaltpotenzial ihrer Patienten erheblich unterschätzen. Und schließlich wirken die verbalen Verharmlosungs- und Entschuldungsstrategien von gewalttätigen Patienten auf viele Therapeuten mangels eigener Gewalterfahrung so überzeugend, dass sie die Sichtweise der Täter unkritisch übernehmen. Entsprechend richtet sich der therapeutische Fokus einseitig auf die persönlichen Hintergründe und psychischen Probleme von gewalttätigen Patienten, ohne dass das tatsächliche Ausmaß der Gewalt zum Inhalt der Behandlung wird. Häufig wird versäumt, ausreichend gewaltfreie Bewältigungsalternativen in der Suchtbehandlung einzuüben.
Wirkt sich mein Suchtmittelkonsum tatsächlich darauf aus, ob ich gewalttätig werde oder nicht?
Studien belegen ein signifikant erhöhtes Risiko stark oder chronisch Suchtmittelkonsumierender, in Gewalthandlungen verwickelt zu werden. Gewaltdelikte können auf Persönlichkeitsveränderungen oder auf Veränderungen des sozialen Umfeldes zurückgeführt werden. Nach Angaben der polizeilichen Kriminalitätsstatistik wurden 2011 über ein Drittel der angezeigten Gewalttaten unter Alkoholeinfluss verübt. Die tatsächliche Anzahl ist jedoch um einiges höher, berücksichtigt man das Dunkelfeld der häuslichen Gewalt. Auch geschehen Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlungen von Kindern häufig unter Alkoholeinfluss.
Macht es einen Unterschied im Hinblick auf meine Gewaltbereitschaft, ob ich trinke oder Drogen nehme?
Durch die unterschiedliche Substanzdosierung der Konsumenten, die Polytoxikomanie, die besondere Lebenssituation, die geprägt ist durch den Beschaffungs- und Verfolgungsdruck, lässt sich wissenschaftlich nicht exakt verifizieren, welche Drogenart Gewalt besonders begünstigt. Erfahrungswerte der Mitarbeiter in der Suchthilfe zeigen jedoch, dass die wahllose Kombination unterschiedlicher Substanzen häufiger zu Kontrollverlust und Aggressivität führt. Kokain und Amphetaminen werden aggressionsfördernde Eigenschaften zugeschrieben. Hingegen wirken Barbiturate grundsätzlich beruhigend und einschläfernd. Bei gewohnheitsmäßiger Intoxikation kann jedoch eine paradoxe Wirkung eintreten. Die Konsumenten neigen dann zu Reizbarkeit und Jähzorn. Verstärkt wird dies durch gleichzeitigen Alkoholkonsum. Die psychotropen Effekte von Halluzinogenen sind psychoseähnlich und können zu einer massiven Einschränkung der Realitäts- und Verhaltenskontrolle führen.
Inwiefern sind die Mitarbeitenden der Suchthilfe in ihrer Arbeit von Gewalt betroffen?
Gewalt ist ein langjähriger Begleiter für die Hilfesuchenden - sowohl auf der Opfer- als auch auf der Täterseite. Somit ist Gewalt auch ein bedeutendes Thema in der Begegnung mit den professionellen Fachkräften. Die Gefahr, als Mitarbeiter selbst Opfer von Gewalt zu werden, besteht vor allem in den niedrigschwelligen Hilfen der Substitutionsambulanzen, den Kontakt- und Notschlafstellen. Eine Studie von 2010 in Kontakt- und Notschlafstellen in fünf deutschen Großstädten von mir zeigte, dass die Mitarbeiter zum Teil mehrmals täglich Aggressionen erleben. Dabei handelt es sich meist um verbale Aggressionen oder die Weigerung von Klienten, Anweisungen der Mitarbeiter auszuführen, aber auch um körperliche Angriffe unter den Besuchern wie gegen die Mitarbeitenden.
Welche Voraussetzungen braucht es für eine einigermaßen entspannte Atmosphäre?
Vorrang hat der Schutz der Arbeitskräfte und der Klientel! Jegliche aggressiven Handlungen werden als Handlungsalternative abgelehnt. Die professionelle Begegnung mit den Hilfesuchenden sollte gezeichnet sein von Respekt, Wertschätzung und Achtsamkeit. Für die Leitungskräfte bedeutet dies, dass sie die notwendigen Voraussetzungen wie die baulich-technischen, organisatorischen und personellen und deren Tauglichkeit regelmäßig überprüfen und optimieren müssen. Zum professionellen Selbstverständnis der Suchthilfe gehören Regeln und auch Konsequenzen bei deren Nichteinhaltung.
Was können Mitarbeiter für sich und ihre Klienten tun?
Insbesondere Kommunikations- und Deeskalationstrainings sind notwendige Hilfen zur Gewaltprävention. Hier können Mitarbeiter lernen, mit den jeweiligen Situationen umzugehen, ruhig zu reagieren, anstatt das übliche programmierte Schema ablaufen zu lassen. Zur Verarbeitung von Konfliktsituationen hat sich regelmäßige Supervision als sehr hilfreich erwiesen.