Auf der To-do-Liste ganz oben
Das vorzeitige Ampel-Aus hinterlässt der Pflege ein schweres Erbe: Die alte Bundesregierung hat es aufgrund ihrer gravierenden internen Divergenzen nicht vermocht, die Weichen für eine nachhaltige und tragfähige Finanzierung der Pflegeversicherung zu stellen. Die nächste Regierung muss dies zum Top-Thema machen und mit einem Update der vorliegenden Gesetzesvorhaben durchstarten.
Die noch zur Weihnacht 2023 so hoffnungsvoll gestartete Offensive zur Stärkung der Pflegekompetenzen versandete mit der Kabinettsfassung des Pflegekompetenzgesetzes (PKG) am 18. Dezember 2024. Der gute Kabinettsentwurf zu einer bundeseinheitlichen Regulierung einer 18-monatigen Pflegeassistenzausbildung, der schon im Spätsommer vorlag, schaffte es nicht einmal in die koalitionsinternen Beratungen. Letzter trauriger Akt war die Not-OP der Pflegeversicherung, mit der die Beiträge zum 1. Januar 2025 um 0,2 Beitragssatzpunkte erhöht werden mussten, um die Zahlungsfähigkeit der Pflegeversicherung ins Jahr 2025 sicherzustellen.
Auch die Versorgungssituation sieht düster aus. Nach einer Abfrage unseres Fachverbands VKAD im September 2024 sehen sich 39 Prozent der befragten Träger in absehbarer Zeit liquiditätsgefährdet. 71 Prozent von ihnen verzeichnen Zahlungsrückstände der Sozialämter. Die Pflegesatzverhandlungen mit den Pflegekassen ziehen sich nicht zuletzt aufgrund von Personalmangel in die Länge und erhöhen die Liquiditätsprobleme der Träger, weil unter vielem anderen die Zahlung oftmals am letzten i-Tüpfelchen der fehlenden Unterschrift unter die Vergütungsvereinbarung scheitert. Das Pflegekompetenzgesetz hätte hier Abhilfe schaffen sollen. Die Caritas fordert den Gesetzgeber auf, unmittelbar nach der Bildung der neuen Regierung die Ärmel hochzukrempeln.
Pflegende Angehörige stärken
Dazu begleitet der Verband die Politik mit konkreten Vorschlägen für den Koalitionsvertrag:
Pflegende Angehörige als größter Pflegedienst der Nation müssen besser unterstützt und entlastet werden. Kurzzeit- und Verhinderungspflege sowie Unterstützungsangebote im Alltag müssen zu einem flexibel verwendbaren Entlastungsbudget zusammengefasst werden. Der Entlastungsbetrag im Pflegegrad 1 soll im Rahmen der Kostenerstattung auch für Alltagsunterstützung durch Nachbarn und Freunde oder für hauswirtschaftliche Hilfen einsetzbar sein.
Für die circa 700.000 Live-in-Kräfte, die pflegebedürftige Menschen in deren Haushalt unterstützen, sind faire Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zu schaffen. Ihre Refinanzierung aus dem SGB XI ist zu verbessern. Wegweisend hierfür ist das Projekt "CariFair" des DiCV Paderborn.
Die komplizierten Regularien der Pflege- und Familienpflegezeit sind zu einer einheitlichen Pflegekarenz zusammenzuführen und mit einer Lohnersatzleistung auszustatten. Außerdem müssen pflegende Angehörige rentenrechtlich bessergestellt werden: Ihre Pflegeleistung ist bereits ab Pflegegrad 1 in der Rente zu berücksichtigen. Eine punktuelle Entlastung durch den Pflegedienst darf nicht länger zu Rentenabschlägen führen. Der Vorrang ambulanter vor stationärer Maßnahmen für pflegende Angehörige muss auch für den Bereich der medizinischen Vorsorge analog zur medizinischen Rehabilitation aufgehoben werden.
Zukunft der Pflege: selbstorganisiert und innovativ
Pflegedienste brauchen attraktive Arbeitsbedingungen: Die Pflege 2.0 soll perspektivisch in kleinen, selbstorganisierten und wohnortnahen Pflegeteams mit größtmöglicher Handlungsautonomie organisiert werden. Innovative Best Practice hierfür hat die Caritas zu bieten, zum Beispiel mit den Versorgungsmodellen "Pflege ganz aktiv" des Caritasverbands Westerwald-Rhein-Lahn oder den "Pflege-Nachbarn" der Caritas in Niedersachsen. Damit solche innovativen Versorgungsformen greifen können, brauchen wir endlich Zeitbudgets anstelle verrichtungsbezogener Leistungskomplexe, in deren Rahmen Pflegebedürftige und ihre Pflegekräfte den Pflegebedarf passgenau auf die jeweilige Tagesform ausrichten können, wie erfolgreich von den Sozialstationen der Caritas Hochrhein praktiziert.
Prävention und Gesundheitsförderung müssen gestärkt werden: Die Vermeidung oder Verringerung von Pflegebedürftigkeit steigert die Lebensqualität und hilft überdies Kosten sparen. Dazu sollen die Kommunen Altenhilfe nach § 71 SGB XII für Pflegebedürftige über 75 Jahre regelhaft in Form von präventiven Hausbesuchen anbieten. Für ihre Aufgaben der Teilhabeförderung, des Quartiersmanagements und der Vorbeugung von Einsamkeit sollen die Kommunen pro Senior:in ein Basisbudget kalkulieren. Dafür müssen die Länder die Kommunen finanziell in die Lage versetzen.
Kurzzeitpflege muss stärker rehabilitativ ausgerichtet werden, zum Beispiel durch Förderung solitärer Kurzzeitpflegeeinrichtungen, deren therapeutisches Angebot auch für ambulant Betreute geöffnet werden muss.
Mobile geriatrische Reha ist flächendeckend auszubauen. Pflegefachkräfte sind par excellence die Expert:innen für Prävention, Gesundheitsförderung, Anleitung pflegender Angehöriger und Stärkung von Gesundheitskompetenzen. Diese Präventionsleistungen müssen im Rahmen von Zeitbudgets aber auch zum Tragen kommen können.
Die Eigenbelastung in der stationären Pflege muss wirksam gesenkt werden: Die Kosten in der stationären Pflege sind in den letzten Jahren wieder stark angestiegen. Betrug der bundesdurchschnittliche Eigenanteil im Jahr 2022 noch 2133 Euro, ist er im Jahr 2024 auf 2576 Euro angestiegen. Damit ist das ursprüngliche Ziel der Pflegeversicherung, die pflegebedingten Kosten durch das Teilleistungssystem des SGB XI aufzufangen, konterkariert. Gleichzeitig haben sich die Länder immer stärker aus ihrer im SGB XI verankerten Verantwortung zurückgezogen, die Investitionskosten für die Pflegeinfrastruktur zu tragen. Würden sie ihrer gesetzlichen Verpflichtung nach § 9 SGB XI nachkommen, könnten die Eigenanteile bundesdurchschnittlich um 490 Euro sinken.
Pflegebedürftige Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen werden gegenüber häuslich versorgten Menschen benachteiligt, weil sie die Kosten für ihre medizinische Behandlungspflege aus ihrem Eigenanteil bezahlen müssen, während dieselben Kosten in der häuslichen Pflege von der Krankenkasse getragen werden. Die Ausbildungskosten, welche die Einrichtungen im Rahmen ihrer Umlage den pflegebedürftigen Menschen in Rechnung stellen müssen, tragen ebenfalls zur Eigenbelastung mit einer durchschnittlichen Höhe von 150 bis 200 Euro bei. Würden diese drei Kostenbestandteile reduziert, könnte der Eigenanteil durchschnittlich um 1000 Euro sinken. Damit könnten sich pflegebedürftige Menschen stationäre Pflege wieder leisten, ohne von Sozialhilfe abhängig zu werden.
Pflege zukunftsfest gestalten
Die Pflegeversicherung ist auf eine tragfähige und nachhaltige Grundlage zu stellen: Dafür braucht es einen Mix aus mehreren Komponenten. Aus Sicht der Caritas sollten starke Schultern mehr tragen als schwache. Daher sollten die Beitragsbemessungsgrenze und die Pflichtversicherungsgrenze angehoben werden. Beiträge sollen von weiteren Einkunftsarten wie Kapital oder Mietzins erhoben werden. Das IGES-Gutachten "Finanzentwicklung der sozialen Pflegeversicherung" hat errechnet, dass diese Maßnahmen den Beitragssatz schon 2030 um 0,30 Prozentsatzpunkte senken könnten.
Auch über eine stärkere Kapitaldeckung in der Pflegeversicherung wird zu diskutieren sein, zum
Beispiel durch die Reform des Pflegevorsorgefonds. In jedem Fall muss die 21. Legislaturperiode den Weg zu einer tragfähigen Finanzierung der Pflegeversicherung ebnen.